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Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Hrsg.]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 3): Denkmäler des Mittelalters, sechste Abtheilung — 1852

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https://doi.org/10.11588/diglit.3503#0129
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Die ChorstüMe der Kathedrale von Amiens.

Von den zahlreichen Holzschnitzwerken des sechszehnten Jahrhunderts sind vielleicht die Chorstühle
der Kathedrale von Amiens die merkwürdigsten durch die bewundernswerthe Feinheit ihrer Details und
durch ihre vollkommene Erhaltung. Im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts sah man in dem Chor dieser
Kirche sehr einfache Chorstiihle, die kaum die Mauern der Chorschranke verbargen und mit der Pracht
des Gebäudes schlecht zusammen stimmten, auch mit einer sehr hässlichen monochromen Malerei bedeckt
waren. Das Beispiel mehrerer benachbarten Kirchen, besonders der von Rouen, die eben prächtige Chor-
stiihle hatte schnitzen lassen, bestimmte das Domcapitel von Amiens die alten Chorstühle durch neue zu
ersetzen, die alles ähnliche übertreffen sollten. Amiens war im Mittelalter durch seine Holz- und Bild-
schnitzer berühmt und zählte unter seinen Mitbürgern einen geschickten Tischlermeister, Namens Arnoul
Boulin, dem das wichtige Unternehmen anvertraut wurde. Es wurde mit dem Meister ein Contract über
die Anfertigung von einhundert und zwanzig reich verzierten Chorstühlen abgeschlossen, nach dem der
Hauptunternehmer mit Einschluss seines Lehrlings sieben tournesische Solidi täglich als Lohn erhalten,
für die Oberleitung des Werks aber zwölf Thaler pro Jahr empfangen sollte. „Was aber die Schnitzwerke
und Historien der Stühle anbetraf, sagt eine Handschrift in der Bibliothek von Amiens, so wurde mit
Antoine Avernier, einem in Amiens wohnenden Bildschnitzer (tailleur dHmaiges), ein Contract geschlossen,
nach dem er zwei und dreissig Solidi für das Stück bezahlt erhielt."

Es wurde nichts vernachlässigt, was zu dem guten Gelingen dieser grossen Arbeit beitragen konnte.
Das schönste Eichen- und Kastanienholz wurde aus dem Walde Neuville en Hez bei Clermont bezogen,
und man Hess aus Holland Eichenholz zum Schnitzen der Basreliefs kommen. Um die Künstler zu über-
wachen und die Auswahl der zu schnitzenden Darstellungen zu treffen, erwählte das Domcapitel vier
Canonici: Jean Dumas, Jean Fabus, Pierre Vuaille und Jean Lenglache, deren Namen uns die Geschichte
aufbewahrt hat; als Leiter des Werks haben sie auch ihren Antheil an dem Lobe, das die ausführenden
Künstler für ihre Arbeit verdienen.

Am dritten Juli des Jahres 1508 — als Franz von Halluin Bischof und Adrian von Henencourt
Dechant des Domcapitels war — wurden die Arbeiten in dem grossen Saale des bischöflichen Palastes
begonnen. Ein Arbeiter brachte die Jahreszahl 1508 zwischen dem neun und achtzigsten und neunzigsten
Chorstuhl an.

Ein einziger Meister war für die Leitung einer so bedeutenden Arbeit nicht ausreichend, und so wurde
denn Alexander Huet, Tischler in Amiens, dem ersten Unternehmer am 10. September 1509 zugesellt, der
sich mit den Chorstühlen an der rechten Seite der Kirche zu beschäftigen hatte, während Arnoul Boulin
mit denen der linken Seite beauftragt blieb. Die beiden Meister arbeiteten an ihrem Werke mit lobens-
werthem Wetteifer, sie machten zusammen Reisen nach Ronen, nach Beauvais und Saint-Ricquier, um die
Chorstühle dieser Kirchen zu studiren und in den Geist der Bildschnitzer des vergangenen Jahrhunderts
einzudringen. Von allen Arbeitern, die an den Chorstühlen gearbeitet haben, hat sich der Name nur eines
einzigen erhalten, nämlich des Jehan Trupin, der sich auf einem Schriftbande an dem sechs- und achtzigsten
Chorstuhle findet. Weiter unter der Scheidewand, die den ein und neunzigsten von dem zwei und neun-
zigsten Chorstuhl trennt, liest man: Jean Trupin Dieu le pourvoi. Einige Geschichtschreiber stimmen darin
überein, dass die Chorstühle am 10. Februar des Jahres 1519 vollendet gewesen seien. Eine Handschrift
des Domcapitels schiebt diesen Termin bis Johannis des Jahres 1522 hinaus; es ist sehr möglich, dass
die Chorstühle wirklich am 10. Februar 1519 vollendet waren, aber erst später im Chor der Kirche auf-
gestellt wurden.

Die Kosten betrugen für die vollendete Arbeit 9,488 Livres, 11 Solidi und 8 Denare, eine massige
Summe für ein Werk, das heute vielleicht 150,000 Franks kosten würde. Die Chorstühle, ein hundert
und zehn an der Zahl, nehmen den Raum von zwei und einer halben Travee an jeder Seite des Chores
ein; zwölf von ihnen befinden sich an der Rückwand des Lettners; sie sind überall in zwei Reihen an-
geordnet, und acht Zugänge führen von der unteren auf die obere Reihe.

Die Aufmerksamkeit des in der Mitte des Chors stehenden Beschauers wird natürlich auf die Dar-
stellungen an der Rückwand der Chorstühle geleitet. Diese Darstellungen, die 8 Zoll hoch und 12 Zoll
breit sind, bestehen aus acht bis zwölf Figuren von 6 bis 7 Zoll Höhe, mit einem Hintergrunde von
Häusern, Schlössern und dergleichen. Fast alle Theile der Chorstühle sind mit zartem Schnitzwerk bedeckt
und der Künstler hat nur die Stellen glatt gelassen, die durch Berührung des Sitzenden ein schnelles
Verderben seiner Arbeit erwarten Hessen. Die obere Reihe der Chorstühle ist mit einer hohen Rückwand
mit Baldachin und Krönung von der erfreulichsten Arbeit versehen. Die geschweiften Spitzbogen, die
die Felder der Rückwand nach oben abschliessen, sind mit Blumen, Früchten, mit aufwärts strebenden

Denkmäler der Baukunst. XCV1I. Lieferung.
 
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