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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0008
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Die Person und das Dickicht der Texte

„Krank will ich wohl einmal sein, aber sterben will ich deswe-
gen noch nicht. Ich bin so ziemlich wieder hergestellt; außer
daß ich noch mit häufigem Schwindel beschwert bin. Ich hoffe,
daß sich auch dieser bald verlieren soll; und alsdann werde ich
wie neugeboren sein. Alle Veränderungen unsers Tempera-
ments, glaube ich, sind mit Handlungen unserer animalischen
Ökonomie verbunden. Die ernstliche Epoche meines Lebens
nahet heran; ich beginne ein Mann zu werden, und schmeichle
mir, daß ich in diesem hitzigen Fieber den letzten Rest meiner
jugendlichen Torheiten verraset habe. Glückliche Krankheit!

Ihre Liebe wünschet mich gesund; aber sollten sich wohl
Dichter eine athletische Gesundheit wünschen? Sollte der
Phantasie, der Empfindung, nicht ein gewisser Grad von Un-
päßlichkeit weit zuträglicher sein? Die Horaze und Ramler
wohnen in schwächlichen Körpern. Die gesunden Theophile
[ein befreundeter Schauspieler] und Lessinge werden Spieler
und Säufer. Wünschen Sie mich also gesund, liebster Freund;
aber wo möglich, mit einem kleinen Denkzeichen gesund, mit
einem kleinen Pfahl im Fleische, der den Dichter von Zeit zu
Zeit den hinfälligen Menschen empfinden lasse, und ihm zu
Gemüte führe, daß nicht alle Tragici mit dem Sophokles 90 Jahr
werden; aber, wenn sie es auch würden, daß Sophokles auch an
die neunzig Trauerspiele, und ich erst ein einziges gemacht!
Neunzig Trauerspiele! Auf einmal überfällt mich ein Schwin-
del! O lassen Sie mich davon abbrechen, liebster Freund! -".

Der Autor dieses Briefes war fünfunddreißig Jahre alt, als er
das am 5. August 1764 aus Breslau einem Freund mitteilte.
Seine Prognose trifft zu: Mit zweiundfünfzig Jahren verab-
schiedet er sich, halb erblindet, von der Welt. Den gewaltlosen
Tod bezweifeln Phantasten und Schwärmer, Freimaurer sollen
ihn ermordet haben -; hat er nicht deren Geheimnisse ausge-
 
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