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Kritik der Geschichte im Namen des Lebens

Herder 1774 und Nietzsche 1874

Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
und Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie fiir das Lehen lie-
gen genau einhundert Jahre auseinander.' Dennoch gehören sie aus inne-
rer Verwandtschaft zusammen. Beide Schriften sind hervorragende Doku-
mente jener radikalen Wissenschaftskritik, die das Anrecht der Lebenswelt
auf Veränderung, Kreativität und Vitalität gegen rationale Ordnungsstif-
tung und Kalkulierbarkeit einklagen möchte. Schon an der Sprache, wenn
auch nicht an ihrer Form, und am Umfang des Kritisierten läßt sich die
Ähnlichkeit der Schriften mühelos ablesen. Beide schütteln bewußt, mit
der Lust des Polemikers an der Hyperbel, Diskursivität und Metaphorik
durcheinander und provozieren so die Grenzbefestigungen der argumen-
tativen Ausgewogenheit. Sie verlieren sich nicht im Detail, sondern ge-
hen aufs Ganze, begreift man darunter den Lebensstil, die Kultur, den
Geist ihrer Zeit.2 Damit treffen sie auch noch unser heutiges Zeit- und
Geschichtsverständnis, das, wie im folgenden zu zeigen ist, von gewissen
Grundsatzfragen der beiden Autoren nicht loskommt.

Widersprüche der Moderne

Herders und Nietzsches Angriff auf die akademische Geschichtsforschung,
der sich zugleich auf bestimmte Formen der wissenschaftlichen Historio-
graphie richtete, ist ein Beleg für die These, daß das geschichtliche Selbst-
verständnis der Moderne mit tiefgreifenden Widersprüchen durchsetzt ist.
Schon früh hat sich der kritische Diskurs, den wir mit Recht zu den Kenn-
zeichen aufgeklärten Denkens zählen, auf dieses selbst zurückgebeugt. Und
das nicht nur in Rousseaus für die Moderne so bedeutungsvoll gewordener
Kulturkritik, sondern in vielfältiger und dauernd wechselnder Form überall
innerhalb des Zeitraumes zwischen 1774 und 1874, den Erscheinungsjah-
ren der zitierten Schriften. Was die Genannten so aufbrachte, das war letz-
tenendes die hemmungslose Ausdehnung der Rationalitätsforderungen auf
alle Belange des Denkens und Handelns. Eine Expansion der rechnenden
und wägenden Vernunft, deren Erfolg in ökonomischen und kameralisti-
schen Fragen den Zeitgenossen so offenkundig in die Augen sprang. So

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