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Commemoratio mortis.
Betrachtungen über Jean Paul,

Kleist und Hölderlin

Leichen.

Eine lege die Hand ans Ohr:

Wat bibberste?

Gottfried Benn

Die einfachste Formel für die schöpferische, zugleich mit dem Lebenspro-
zeß die Zeit zeugende Kraft des Logos ist das bekannte Wort aus Mose
1.1: »Es werde... und es ward.« Die Inkarnation läßt das Wort nicht frei,
sie legt ihm zeitliche Fesseln an. Es wird endlich, teilt das Schicksal alles
Lebenden und stirbt. Dieser Tod ist indessen kein Absturz ins Nichts, son-
dern ein Pfad ins Archiv. Dort bewahrt es die Gemeinde der Wortgläubi-
gen unter andern virtuellen Zeichenvorräten und pflegt sein Gedächtnis
im Kultus der Auslegung, hoffend, daß die gelehrte Beschwörung es dem
Leben zurückgebe. Ein Motiv dafür ist der Schrecken vor der Leere, der
im übrigen auch das Denken veranlaßt, die Halt bietenden Diskursgren-
zen unter Berufung aufs Unendliche als deren Grund nur versuchsweise in
Begriffsspielen aufzulösen. Der Mythos, im Kult nimmt er die Gestalt der
Handlung, in der Dichtung die der Chiffre an, erzählt von der Parusie als
der Verschmelzung von Wortzeichen und schaffender Substanz, von totem
Buchstaben und lebendigem Geist. Die Poesie aber, behaupte ich mit Jean
Paul, »verklärt« wie der Jüngste Tag der Zeichenauferstehung Autor und
Leser, ohne die Welt so zu verändern, wie es die Apokalypse zusammen-
reimt.

Betrachtungen stellen vor die Wahl, ob Kontemplatives oder Erbauli-
ches den Ton bestimmen soll. Die Letzten Dinge legen es nahe, beidem
gerecht zu werden. Doch betrachten läßt sich selbst dieses mit allen Sin-
nen. Bilder und plastische Szenen, kurz: Bunte Konkretionen jeder Art
müssen das trübe Nichts des Todes nicht schmälern. Daher beginne ich
mit der Bildbeschreibung von Sterbebetten und Funeralien. Wo vom Tod
die Rede ist, sind Bilder in unserer Kultur die wahren Platzhalter erinnern-
der Vergegenwärtigung.

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