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Nr. 22

JUGEND

1898

Wanda v. Kunowski (München),

hell und bunt, und stau-
big zugleich, voll Dunst
und voll Licht. Das pilgert
und läuft und fährt durch
die Strasse, dem Westen
zu, und zum Centrum
hinauf, es riecht nach
Millionenstadt, man kann
es fassen und greifen,
das Wochentagnach-
mittagsleben.

Und sie geht zurück
in’s Zimmer, das mollig
und warm ist, vom
Dunst der Polstermöbel
erfüllt, vollgestopft mit
billigem und meist ga-
lantem Kram. Einen
Augenblick betrachtet sie sich unschlüssig im
Spiegel, dann kraut sie. dem Vogel das Köpf-
chen, dann ergreift sie die Schneiderscheere von
einem Seitentisch, und betrachtet auch diese
stumm. Modistin sein, — das heisst nähen I
nähen! arbeiten! — Ach, sie näht ja nicht.

Seit Paul sie verlassen hat, glanzt unten
an der Hausthür das Schild: Mali Remmert,
Modistin für Damengarderobe, Wiener Atelier.
In einem einzigen Satze gleich zwei schlechte
Ausreden auf einmal: Erstens heisst sie gar-
nicht Mali, sondern ganz ordinär Albertine,
nur Fritzei hat Mali daraus gemacht. Und
dann — Wiener Atelier! Nein, sie weiss
nichts von Wien, ist nie über Berlin hinaus-
gekommen, nur voriges Jahr mit Fritz bis
nach Ahlbeck, wo sie vier Wochen lang in
einem kleinen Hause dicht am Strand gewohnt
haben. Und sie lächelt sehnsüchtig vor sich
hin. „Fritzei,“ „Mali,“ „Ahlbeck 1“ Es sind
Worte aus ihrer Glückszeit. — Jetzt kommt
die Arbeitszeit. — —■ — —

Warum hat er sie nicht mitgenommen,
ihr Lieutenant der Kolonial-Schutztruppe, mit
hinüber nach Urujagunarah? Er nahm doch
„Pascha“ mit, seinen kleinen Hund, und so
viel wie der verträgt, hätte auch sie ertragen
an Strapazen. Dann würde sie ihr bischen
Kram verkauft haben, die drei Zimmer Polster-
möbel, und draussen die kleine, blinkende
Küche, die doch eigentlich für sie so über-
flüssig geworden, denn seit Fritz nicht mehr
des Abends kommt, kocht sie den Bissen
Essen für sich selbst auf der Spirituslampe.
— — — Ach Gott, Du lieber Gott! Es
war eben alles anders wie es sollte, und wie
heiss und wie staubig dazu dieses Berlin!
Und wieder trat sie an das Fenster und
starrte hinab. U-ru-ja-gu-närah. Ein langes
Wort. Es spannt sich so lang wie der Tele-
graphendraht, der, blau in der goldnen Sonne
blinkend, über die Dächer der Häuser führt.
U-ru-ja-gu-narah. Ein sehnsüchtiges Wort,
das sich ewig hinzieht, bis nach Urujagunarah
selbst, wo Fritzei jetzt in seinem weissen
Anzug vor dem Zelt sitzt und seinen Tschi-
buk raucht.

Ja, alles würde sie ausgehalten haben,
die sengende Sonne, die Mosquitos, das
schlechte Essen, selbst das gelbe Fieber —
nur bei ihm, in Urujagunarah müsste sie
sein! Und mit trockenen Augen blickt sie
wieder hinaus, über die Dächer hin, üoer
die Menschenfluthen, über die kribbelnde,
wirbelnde Welt unter sich. Wie weit ist
das alles von Urujagunarah! — Und ihr ist
eine Weile, als existire nur dies eine Wort
in dieser Welt. Sie sagt es laut vor sich
hin, rasch, wie verzweifelt. Der Papagei in
seinem Bauer wird aufmerksam und schreit
dazwischen. Und sie wiederholt das Wort,
und lässt ihn schreien, und tritt an das Bauer
und ruft es durch die Stäbe: „Urujagunarah,

— weisst Du noch, Sissikoh?“ Denn Sissikoh
ist ja von dort, Paul hat ihn ihr mitgebracht
von seiner ersten Dienstfahrt nach den deut-
schen Kolonien. Damals ging er für Monate
hin. Jetzt aber bleibt er dort! Und sie
öffnet die Thür des Bauers, ergreift das Thier,
drückt es an ihre Brust, an ihren Hals, küsst
es wie gierig auf den sich wehrenden
Schnabel. „Sissikoh! Wo ist Herrchen?
Wo ist Herrchen, Sissikoh!!?“ Da fängt er
an zu lamentiren: „Achtung! Prräsentirt

das Gewehr! Rrrechts um! Bataillon —
marrrrsch !!!“ Alles mit der Stimme seines
Lieutenants, mit „Herrchens“ frischem, keckem,
munterem Ton. Und sie läuft hinaus, in die
Küche, schlägt die Thür hinter sich zu, um
ihn nicht mehr zu hören, den lieben, geliebten,
vertrauten Ton — und weint!! und weint!! !

„Atelier für Wiener Damenmoden!“
Lieber Gott! Vielleicht verhungert sie.

Sieben Jahr sein kleines „Weib“ gewesen.
Ja, das ist schon eine Zeit. Damals war sie
zwanzig, und wie ein Vogel in einen blühenden
Strauch, flog sie an einem Sonntag in seine
Arme. Sieben Jahre hatte ihr Sonntag gewährt.
Und nun ist es Wochentag geworden — ur-
plötzlich. Und nun soll sie nähen.

Tausend Mädchen nähen. Tausende haben
Schilder vor der Thür! Ist es einzelnen er-
gangen wie ihr? Kann sie aufkommen gegen
die vielen anderen Tausend, die sich an den
Wochentag gehalten haben, von Anfang an,
und nicht wie sie an einen einzigen Feier-
tag, mit einem geliebten, schönen, blonden,
grossen Menschen! Und sie sieht ihn vor
sich, ihren „Lieutenant“ — Herrchen — ihren
Fritz!! Ueber die Treppe hört sie seinen
Säbel rasseln, hört das Klirren seiner Sporen
draussen auf dem Hausflur, hört den schrillen
Klang der Klingel, sieht sich selbst hinaus
stürzen, fühlt sich umfasst von seinen Ar-
men, versinkt im Dufte der Veilchen, die er
unter dem Waffenrock für sie verbirgt-

Und nun soll sie nähen. — Wiener Mode. —

Aber was die Männer nur für Worte haben.
Unfassbare: „Du musst nun ein geordnetes
Leben anfangen!“ Nach sieben Jahren. Und
sie hat es versprochen. Sie hätte ihm auch
die Finger ihrer Hand versprochen. Alles,
wenn er gewollt hätte. Aber er wollte ja
nicht viel. So wenig. Nur dass sie wieder
„ordentlich“ würde. Dass sie arbeite, sich
eine Existenz schaffe. Und dass sie ihn

Die Glocke läutet kein einziges Mal.
Wenn es so weiter geht mit dem Atelier,
dass Niemand kommt — — —- Vielleicht
wäre es gut, sie ginge aus, zu ihren früheren
Bekannten, hübschen Mädchen, „Verhält-
nissen,“ reicher als sie stets gewesen, um
Kundschaft zu erbitten. Aber nur heute nicht.
Morgen — andermal. Der Sommerabend ist so
schwül, Und dann ist es kein leichter Gang,

„Sissikoh?“Durch die
Dämmerung spinnt ein
dünner Ton, von der
dunkelnden, kleinen Kü-
che hinüber in das Zim-
mer mit den Polstermö-
beln. „Sissikoh — wie
machte Herrchen?“ Und
als der Vogel starrsinnig
schweigt — mit dünner,
schluchzender Mädchen-
stimme : „Prrräsentirt das
Gewehr! — Rrrechts um!
— Bataillon — marrrrsch1 !
-Ach Sissikoh !!!!“

fgor her Himmelsthür

Sa-Nkt Peter that einen tiefen Zug aus dem schö-
nen gothischenSüberhumPen, den ihm die seligen
Geister gelegentlich seines achtzehnhundertjährigen
Dienstjubilüums geschenkt hatten und sagte:

„Sie haben recht, lieber Freund, es ist kein
leichter Posten, ans dem ich stehe. Aber das
Schlimmste daran sind die Stunden von 9—12
Uhr jeden Morgen, wo ich die Legitimation der
Ankommenden für ihre Anwartschaft auf die ewige
Seligkeit zu prüfen habe. .Wer ein reines .Herz
hat, darf herein/ hcißt's in der Instruktion.
Prosit die Mahlzeit!

Was die Leute als Herren vorzuwcisen haben
— Du lieber Heiland! es ist kaum zum glauben!
Znm Beispiel heute: Da war ein muskelstarren-
der Sportsmensch, bei dem das Herz zur Velo-
zipednnmmer geworden war! Einem Mucker,
der sieben Frömmigkeits-, Sittlichkeits- und Wohl-
thätigkeitsvereinen angehvrte, hatte die Schlange
des Neides ein gewaltiges Loch in's Herz ge-
fressen und ein Weiblein — sie war übrigens
gar nicht übel — zog noch vor der Himmelsthür
geschwind den leichtbeschwingten Liebespfeil ans
dem rothen zuckenden Muskel, an dessen tiefer
Wunde sie gestorben war. Ein blasirter Geck stand
daneben, der hatte vorgezogen, mir seine Legiti-
mation lieber gar nicht vorzmveisen — sie mochte
wohl darnach ausgesehen haben. Jedenfalls war
der Kerl frech genüg, angesichts der himmlischen
Hcerschaaren nach der genannten, kleinen Kokette
herüber zu schielen. Dann war irgend eineLakaien-
seele gekommen, mit dem Titel Excellenz; deren
Herz war in einen Orden verwandelt und sie trug
ihn um den Hals; eine Klatschbase und Kränzchen-
schwester, die hatte ihr feistes und fühlloses Herz gar
>n der Kaffeetasse heraufgetragen — eine schöne
Collection armer Seelen, lieber Freund —"

„Pfui Teufel!" sagte ich mit einem rechten
Pharisäergesicht zum Pförtner deS Himmelreichs.

„Na, na, meiuJnnge," meinte der, „mach nurDu
Dich nicht zu mausig! Hätfl ich dazumal nicht meine
ganzeLangmuth o'rangewendet, Du sähest jetzt auch
nu „Cafe Inferno" beim Dämmerschoppen und
nicht hier oben beim „Lustigen Cherub." Da
waren Flecken — Flecken — schwarz >vie Tinte."

„Vielleicht war's auch Tinte," sagte ich. Und
der heilige Petrus fuhr fort, zu erzählen:

„Ich habe schließlich doch daS ganze Gesindel
hereingelassen bis auf den Neidhammel. Denn
eine arme Seele kam, die machte mich weich.
Ein hübsches, kleines Ding, dem sein armes Herz-
lein bedenklich in den Schmutz gefallen war im
Leben. Ganz richtig im Schmutz der Gosse hatte
cs gelegen und die Leute hatten darauf umher-
getrampelt mit Lackschuhen wie mit genagelten
Stiefeln. Nun war sie erlöst vom Leben und
sie kam bang und bleich und mit niedergeschlag-
enen Augen. Sie ivollte mir kein X für ein Ü
machen, wie die Andern — sie rieb nur ein wenig
mit dem Mantelzipfel den Schmutz von dem armen
zertretenen Herzen weg. Und siehe, es wurde
blank und funkelte wie ein nagelneues, reines
Mädchenherz. Mir wurden die Augen naß. Und
um der Emen willen ließ ich die Andern passiren.
Menschen, Menschen sind wir Alle!"-

Er stand auf. In der Nachbarschaft krähte
ein Hahn und der Ton war dem Heiligen sicht-
lich unangenehm. Ich aber trank meinen Rest
auf das ganz spezielle Wohl des HERRN, der
das Pförtneramt im Himmel einenr — seiner-
zeit — gar sündhaften Menschen anvertrant und
keinem fehlerlosen Erzengel. - H

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Register
S. H.: Vor der Himmelsthür
Wanda v. Debschitz-Kunowski: Zierleiste
 
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