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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 12.1914

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Heft 10
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Scheffler, Karl: Das Talent
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https://doi.org/10.11588/diglit.4753#0564
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DAS TALENT

VON

KARL SCHEFFLER

iemand weiss, woher es
kommt und wie es entsteht.
Es ist plötzlich da, es über-
rascht durch eine vorher
gar nicht vorstellbare Ori-
ginalität,und es dauert nicht
lange, bis man es sich nicht
mehr fortdenken kann, bis
es notwendig zu sein scheint
im Haushalt des Lebens. Tritt es hervor, so sieht
es wie das Produkt einer zufälligen Kräftemischung
aus; ist es aber da, so wirkt es wie vorgedacht und
vorgewollt. Dann ist es, als objektiviere es all-
gemeine Instinkte, als würden in ihm Triebe und
Ahnungen vieler bewußt und aktiv, als sei es ein
absichtsvoll gezeugtes Sonntagskind der Nation.
Jedes echte Talent hat beides, das Einmalige, Einzig-
geartete und auch das Allgemeingültige; ein jedes
ist darum wie ein kleines Wunder, das in Erstaunen
setzt. Man thut auch am besten, es als ein solches
hinzunehmen; denn man thut ihm unrecht, wenn
man ihm Vorschriften macht und ihm eine bestimmte
zweckvolle Rolle im sozialen Leben anweist. Das
Talent ist nie zweckmässig im gemeinen Sinn, es
ist zweckmässig nur in einer vorher nicht zu be-

rechnenden und ganz übertragenen Weise. Darum
bleibt der Kern seines Wesens der Analyse, der
Kritik unzugänglich. Ewig dunkel bleibt dem unter-
suchenden Verstand die Thatsache, wie es möglich
wird, dass eine Kraft da ist, die aus sich heraus
Neues gestaltet, Dinge gestaltet, die den Schein einer
schönen Notwendigkeit haben, so dass Gott sich
des Umwegs über das Talent, des Werkzeugs des
Talents zu bedienen scheint, um die Schöpfung nach
der Seite des geistig Sinnlichen zu erweitern. Ein
Punkt ist es, an dem der Verstand immer wieder
abprallt: wie es kommt, dass Eindrücke und Emp-
findungen, die alle Menschen haben oder doch
haben könnten, im Talent sich in konkrete Formen
verwandeln, in Formen, die die merkwürdige Eigen-
schaft haben, mit zwingender Kraft im Betrachter
sich rückwärts wieder in Eindrücke und Empfin-
dungen zu verwandeln. Unbegreiflich bleibt es,
kraft welcher Organisation die Maler und Bildhauer,
indem sie die äußere Natur nachahmen, zugleich
ihr inneres Erlebnis gestalten und wie sie, indem
sie ihr Inneres wie mit einer Handschrift darlegen,
zugleich die ganze sichtbare Natur in diese Hand-
schrift hineinzuziehen vermögen. Rätselhaft ist diese
fortgesetzte Verwandlung von Objekt und Subjekt,

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