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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 2
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Liebermann, Max: Anschauung und Idee
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0055

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ANSCHAUUNG UND IDEE

VON

MAX LIEB ERMANN

Lichtwark erzählte mit Vorliebe die Geschichte
von den drei alten Stiftsfräulein, die die Bibel
zusammen lasen und auf die Frage, ob sie auch alles
verständen, antworteten: „Was wir nicht verstehen,
erklären wir uns."

Mit Phrasen und wären sie auch noch so lang
und noch so volltönend, kommen wir nicht weiter:
wollen wir zum Verständnis der Kunst vordringen,
müssen wir versuchen, unsere Empfindungen, wie
Kant sagt, auf Begriffe zu bringen. Das Ausdrucks-
mittel der bildenden Kunst ist die Form: aus ihr
müssen die Empfindungen, sofern sie künstlerisch
sind, hervorgehen. Daher scheidet die mechanisch
gewordene Form bei ästhetischen Untersuchungen
von vornherein aus, und es kann sich nur um die
Form handeln, aus der geistiges Leben zu uns spricht.
Da nun der Gegenstand aller Malerei die Darstellung
der Natur ist, zo kann das seelische Leben nur auf
dem Verhältnis des Künstlers zur Natur beruhen.

Wenn wir von Malerei sprechen, meinen wir
immer gute Malerei, das ist die Malerei, die uns als
gut erscheint, denn ein Beweis dafür, dass sie gut
ist, kann nicht erbracht werden, wir können nur

durch Gründe den Leser überzeugen wollen, dass
die Malerei, die uns gut scheint, auch gut ist.

Dürer sagt: „Die Kunst steckt in der Natur,
wer sie heraus kann reissen, der hat sie" wobei ihm
das Genie — da er selbst eins war —, bedingungslose
Voraussetzung ist, und er damit Goethes Ausspruch
bestätigt, dass, „wenn Künstler von der Natur
sprechen, sie, ohne sichs bewusst zu werden, immer
„die Idee" subintelligieren." Der Künstler sieht mit
dem leiblichen und geistigen Auge. Sein Sehen ist
seherisch: indem er die Natur anschaut, erkennt er
sie, was Leibi mit den Worten meinte: „Wenn ich
male, was ich sehe, male ich die Seele mit." Un-
bewusst subintelligiert er die „Idee", denn wäre sein
Sehen nur ein physisches, so wäre sein Malen nur
ein mechanisches Abmalen der Natur. Künstleri-
sches Sehen ist daher immer leibliches und geistiges
Sehen zugleich: die Anschauung schliesst die be-
griffliche Erkenntnis ein. „Ein Mensch kann sich
nicht ankleiden oder seine Ideen werden sogleich
gekleidet und kleidet er sich wie ein feiner Mann,
so stehen sie alle vor seiner Einbildung da, artig und
fein, wie er selbst." (Sterne in „Tristam Shandy").
 
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