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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 2
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Glaser, Curt: Gustav Doré
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0060

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GUSTAV DOR-E

VON

CURT GLASER

Die Stilgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts
ist noch ungeschrieben. Es hat noch niemand
den Versuch unternommen, das Nebeneinander und
Nacheinander widersprechender Richtungen im Zu-
sammenhang zu deuten und die Beziehungen klar-
zulegen, aus denen ein historisch überschaubares
Gewebe sich aufbaut. Noch herrscht überall das
Chaos. In rascher Folge scheint eines das andere
abzulösen und zu verneinen. Was gestern als ein-
zige Wahrheit gepriesen wurde, ist heut schon fast
der Vergessenheit anheimgefallen, und das Morgen
zeugt andere Ideale, die vielleicht das eben noch
Verachtete in neuen Glanz emporheben. So konnte
es kommen, dass der Name eines Künstlers in zwei
Welten gefeiert war, um nach wenigen Jahren eben-
so allgemein verleugnet zu werden und endlich,
nachdem drei Jahrzehnte über seinem Grabe dahin-
gegangen sind, langsam wieder zu verdienter
Schätzung aufzusteigen.

Dies ist das Schicksal des Zeichners Gustave
Dore. Eine Zeit, der die neuen Begriffe der Buch-
kunst, des Buchschmuckes heilig waren, musste
seine freien und lebendigen Zeichnungen, die ganz
gewiss jede ornamentale Beziehung zu dem Satz-
bild vermissen Hessen, als Feind ihrer Ideale in
Grund und Boden verdammen. Aber nachdem
allmählich die Erkenntnis von der öden Unfrucht-
barkeit der archaisierend dekorativen Buchillustra-
tion zu dämmern begann, und die lebendige Zeich-
nung sich wiederum Eingang in das Druckwerk
zu schaffen suchte, konnte auch der Geschmack an
den Werken eines Zeichners, der wie keiner vor
ihm oder nach ihm die Gabe des Illustrators besass,
aufs neue erwachen. Man sah mit anderen Augen
und ohne theoretische Voreingenommenheit die
leblosen Linienspiele der englischen PrärafFaeliten,
die eine neue Inkunabelzeit heraufzuführen unter-
nahmen, die jede technische Neuerung als kunst-
feindlich ablehnten und den Gang der Zeit aufhalten
zu können meinten, indem sie die Maschinen ver-
bannten und anstatt mit der Post und Eisenbahn
die Erzeugnisse ihrer Presse auf Karren in die
Hauptstadt schaffen Hessen.

Der dekorative Reiz, die handwerkliche Schön-
heit der englischen Drucke soll nicht geleugnet
werden. Aber es sind erborgte Schönheiten, es
sind die dekorativen Zusammenhänge, die vier-
hundert Jahre zuvor aus einer zeitlichen Bedingtheit
natürlich hatten entstehen müssen, die nicht durch
künstliche Wiederholung, auch nicht durch die
treueste Wiederherstellung der handwerklichen
Voraussetzungen zu einer wirklichen Lebensfähig-
keit erweckt werden können. Zu bald enthüllt sich
die Armut eines ornamentalen Linienspiels, das einer
archaisierenden Geste seine Entstehung verdankt,
und man atmet gleichsam befreit auf, wenn man
eine Seite mit Zeichnungen Dores daneben legt, die in
ihrer überquellenden Lebendigkeit der kaltherzigen
Unnatur englischer Präraffaelitenkunst die deut-
lichste Absage leisten. Und doch konnten die Bücher
der Morris und Burne-Jones, Crane und Beards-
ley vor nicht langer Zeit als das Evangelium einer
neuen Kunst gepriesen werden und fanden zumal bei
uns in Deutschland begeisterte Aufnahme und Nach-
folge in einem kunstgewerblichen Buchschmuck,
dessen Spuren nicht so bald wieder aus den Erzeug-
nissen unserer Druckpressen zu tilgen sein werden.

Die neue Buchkunst stand in engstem Zu-
sammenhang mit der allgemeinen kunstgewerb-
lichen Bewegung, die als Reaktion eines purita-
nischen Naturalismus gegen jede romantische
Neigung der vergangenen Zeit zu verstehen ist.
Heut durchschauen wir leicht die Erfindungsarmut
einer nüchternen Reissbrettkunst, der Phantasie und
Ornament gleichermassen verpönte Begriffe ge-
wesen sind. Und wir beginnen wieder, die gross-
blumigen, gestickten Teppiche zu lieben und die
geschweiften Nussbaumsofas mit dem fahrigen
Rokokoschnitzwerk, die vor noch nicht langer Zeit
aus den Wohnungen der Wohlhabenden in die
Trödlerläden wandern mussten. Diese neue Stim-
mung musste auch der Kunst des Dore günstig sein,
die lange Zeit verachtet und beinahe vergessen war,
bedeutete sie doch die klassische Verkörperung
des Geistes der fünfziger und sechziger Jahre, der
Zeit zwischen dem Biedermeier und dem zweiten

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