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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 31.1932

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Heft 1 und 2
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Heft 3
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Scheffler, Karl: Nationale Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7616#0086
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Nationale Kunst

von KARL SCHEFFLER

In kunsthistorischen Seminaren wird die Übung vorgenommen, daß Licht-
bilder wenig bekannter Kunstwerke auf kurze Dauer gezeigt werden, mit
der Anweisung für die Studierenden, die Werke zu bestimmen. Zu den
regelmäßigen Fragen gehört auch die Frage, welchem Lande das eben
betrachtete Werk angehöre. Darauf läßt sich in den meisten Fällen
eine Antwort geben: das Ursprungsland kann, wenn es sich um gute,
charakteristische Werke handelt, intuitiv bestimmt werden. Das aber heißt,
daß die Kunst jedes Landes, das eine eigene Kunst produziert, bestimmte,
feststehende Charakterzüge hat. Und dieses wieder heißt: alle Kunst ist
national bedingt.

Wonach urteilt das Auge, wenn es eine solche Entscheidung trifft? Es
urteilt fast nie nach den dargestellten Gegenständen. Denn Madonnen sind
ehemals in allen Ländern gemalt worden; und deutsche Historienmaler
haben später, zum Beispiel, nicht nur deutsche, sondern auch französische,
und französische Historienmaler haben auch englische Geschichtsmotive
gemalt. Die Stoffe sind immer nur bedingt national. Das Auge urteilt in
Wahrheit nach der Art der Darstellung; das will sagen: es urteilt nach
Formen. Da es dazu imstande ist, so muß jeder nationalen Kunst ein be-
stimmter Formencharakter eigen sein.

Da aber die Bestimmung: dieses muß deutsch sein, vor deutschen Kunst-
werken aller Jahrhunderte getroffen wird, so ergibt sich, daß der nationale
Formencharakter konstant ist, daß er wie eine Handschrift ist, die sich un-
verwischbar in allem Stilwandel erhält.

Läßt sich diese deutsche (italienische, holländische, französische) Form nun
auch analysieren und damit beweisen? Nur zu kleinen Teilen. Es lassen
sich einige Merkmale nennen; doch bleibt alles sehr im Groben, die feine-
ren Nuancen entziehen sich der Analyse. Das Auge ist wieder einmal viel
klüger als der Verstand. Wie es vor fremden Menschen sofort eine Ähn-
lichkeit erkennt, indem es im Nu hundert Formen aufnimmt, sie aber
auch synthetisch gleich zusammenfaßt, ohne sich des Vorgangs überhaupt
bewußt zu werden, so berühren hundert Fühlfäden des geheimnisvollen
Formensinnes zugleich das unbekannte Kunstwerk und bestimmen fast auto-
matisch dessen Art. Erfahrung kann dabei zum Erzieher werden; der Vor-
gang selbst ist aber jedesmal wieder spontan.

Wenn sich der Formcharakter des Nationalen nicht in seine Bestand-
teile klar zerlegen läßt, so muß es auch unmöglich sein, ihn absichtsvoll
herzustellen. Es muß selbst dem Künstler unmöglich sein. Von einem un-

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