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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 57.1906-1907

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Schur, Ernst: Das moderne Kunstgewerbe und die Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.9336#0368
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736. Kopfleiste; von A. Schön mann, München.

(Dae moderne (>(unstgewerße
und die Uuktur.

(Von Srnst Kchur.

n der Beurteilung der dekorativen
Kunst der Gegenwart gibt es
immer noch fast ausschließlich nur
zwei Standpunkte: Kritiklose Be-
wunderung oder Ablehnung. Die-
jenigen, die sich auf irgend einen
Meister festgefchworen haben, kennen nur diese feine
Formensprache und immer wieder setzen sie Mittel
und Wirkung und vor allem den Willen des Künst-
lers auseinander. Sie wiederholen sich und werden,
indem sie dem Neuen gegenüber taub bleiben, ohne
daß sie es wissen, reaktionär. Es kommt nicht auf
den Willen des Künstlers an. (Es kommt auf das
an, was er gegeben hat, die Leistung. Diese Leistungen
stehen für sich, reden für sich, heutzutage bekommen
wir aber meist von jedem Künstler ein Stilprogramm
mit auf den Weg, in dem er entwickelt wie ein Feld-
herr, wie er seine Truppen marschieren läßt, wie
sich seine Tendenz dem Bisherigen einfügt. Kurz:
die Propaganda ist erstaunlich entwickelt. Und die
Lobreden begleiten die Taten mit einen: abgründig
prophetischen Erguß. Das Sozial-Ethische überwiegt
über das Künstlerische. Die literarische Formulierung
erdrückt das Stilistische, das Formale. Und in diesem
Licht erscheint denn der dekorative Künstler beinahe
als ein Volksbefreier, ein Erlöser.

Auf der anderen Seite stehen die Feindlichen
mit verbissenen Mienen. Ihnen ist der Sieg der
dekorativen Kunst, die Gestaltung eines Interieurs,
die Durchdringung unserer Kultur mit architektonisch-
dekorativen Tendenzen beinahe ein Triumph des
Bösen. Sie lachen, wenn sie in solche Stuben treten.
Mit fanatischem Eifer schlagen sie sich für die gute
Sache und die Frage: sollen wir ein modernes Kunst-
gewerbe haben? erhält bei ihnen fast religiöse Prä-
gung.

Ohne Zweifel haben wir in diesen beiden
Gruppen bestimmte Tendenzen des Allgemeinwillens
zu sehen. Es sind programmatische Standpunkte
und die werden immer eingenommen, wenn es gilt,
irgend etwas Neues durchzusetzen. Indem wir dies
aber sehen, befreien wir uns zugleich aus den engen
Umstrickungen der Propaganda. Wir nehmen einen
Standpunkt ein, der uns einen höheren Überblick ge-
stattet. Indem wir die feindlichen Kräfte abwerten
gegeneinander, lernen wir sie nach ihren: jeweiligen
Werte — denn beide haben ihren Grund — abschätzen.
Und indem wir den Fanatismus vermeiden, ge-
winnen wir die Möglichkeit einer vorurteilsfreien
Kritik, gewinnen wir Verständnis und Teilnahme
für die Kommenden. Wir verteilen die Sympathien
gerechter und wissen, daß die Zukunft erst die Lö-
sungen bringen wird.

Dainit betritt die dekorative Bewegung ein neues
Gebiet. Sie kommt in ein neues Stadium. Es wird
die Möglichkeit einer sachlichen, objektiven Kritik
angebahnt, die dieses lobt, jenes nicht anerkennt, da

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Kmtfl und Handwerk. L7. Zahrg. Heft \2.

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