Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

DOI Heft:
Heft VI (Juni 1909)
DOI Artikel:
Kolb, Gustav: Die Organisationsarbeit des Stadtschulrats Dr. Kerschensteiner in München, [3]: ein Bericht über das Münchner Fortbildungsschulwesen sowie über den Handarbeits- und Zeichenunterricht der Münchner Volksschulen
DOI Artikel:
Muthesius, Hermann: Wohnungskultur, [4]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0100
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
82

Ich finde vor allem, dass die psychologische Grundlage sehr häufig und zwar in
besonders wichtigen Punkten verlassen wurde. Die Ursache davon mag vielleicht
sein, dass K. seine Grundsätze einen Mann in die Praxis übertragen liess, der,
wie ich vermute, nur künstlerische und nicht auch pädagogische Ausbildung besitzt.
Ein Zeichenunterricht aber, wie ihn K. anstrebt, ist, wie ich schon früher in
„Kunst und Jugend“ ausführte, eine eminent pädagogische Angelegenheit.
Und das letzte Wort hierin gebührt nicht dem Berufskünstler, sondern dem künst-
lerisch gebildeten Erzieher.
So sehr nun andererseits die rührige Tätigkeit der Münchner Zeicheninspektion zu
schätzen ist, die sich besonders durch Veranstaltung von Lehrerkursen verdient
macht, so habe ich doch andererseits den Eindruck gewonnen, als ob in der Lei-
tung des Unterrichts des Guten zuviel geschehe. Bei einem solch streng aufge-
bauten Lehrplan, der bis ins Einzelgehen dste geregelt ist, verbleibt dem
Lehrer ohnedies zu wenig Bewegungsfreiheit. Tritt dann noch eine Oberleitung
dazu, die nur einen alleinseligmachenden Weg kennt und diesen unter allen Um-
ständen eingehalten wissen will, so hat der einzelne Lehrer weder Gelegenheit noch
Lust bei Ausgestaltung seines Unterrichts sich selbst zu betätigen. Und dabei steht
die Gefahr der Erstarrung des Unterrichts drohend vor jeder Schultüre. Und dass das
der geniale, weitblickende Organisator Dr. Kerschensteiner nicht beabsichtigt, das
zu erhärten, bedarf es keines Wortes von unserer Seite.
Nun, möge die Praxis auch manches anders gestaltet haben als wir es nach
Studium des Werkes „Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung“ erwarteten;
die Tatsache bleibt bestehen, dass K. mit diesem Werk einer der kräftigsten An-
reger für die Zeichenunterrichtsreform geworden ist und darüber kann kein Zweifel
sein: die Weiterentwicklung der Reform führt an dieser Arbeit nicht
vorbei sondern durch sie hindurch.

Wohnungskultur. (Schluss.)
Es ist nicht zuviel behauptet, und jeder, der sich auch nur oberflächlich mit
der Wohnungskultur vergangener Zeiten beschäftigt hat, wird hier beistimmen,
dass der heutige Wohnungsinhalt eine Summe von Unkultur darstellt,
wie sie in keiner Zeit auch nur im entferntesten dagewesen ist. Die Unkultur
ist eine Folge der Entfaltungssucht unserer Zeit. Nicht genug, dass kein Ge-
schmack da ist, an die protzige Anhäufung von Gegenständen ist auch nicht die
mindeste Qualitätskritik angelegt. Die Unkultur ist konsequent durchgeführt.
Und das Merkwürdigste ist: niemand scheint diese Unkultur zu merken. Man
gefällt sich darin, ja man watet mit Entzücken bis über die Knie in ihr herum.
Man findet das „gemütlich“, heimisch, wohnlich. Man ist ein echter Parvenü,
indem man sich in dickem Ueberfiuss behagt, ohne jenes Streben nach Ruhe
und Zurückhaltung auch nur zu kennen, das den vornehmen Mann von Natur
auszeichnet. Unsere heutige Wohnung wie unsere heutige Gastlichkeit sind auf
das Imponieren berechnet, in beiden liegt die ängstliche Sucht verborgen, als
reich und vornehm zu gelten, den Anschein des Auf-grossem-Fusse-lebens zu erwecken.
Und damit stimmt noch vieles andere in unseren heutigen gesellschaftlichen
Zuständen überein. Man höre nur die Unterhaltung gewisser Kreise, die sich bei
Besuchen abspielt. Sie dreht sich um Bäder und Reisen, mit denen man impo-
nieren will, um „erstklassige Hotels“, um vornehme Sports, die man mitmacht.
Nur das „Feine“, das man von sich berichten zu können glaubt, wird hervorgesucht
und ausgebreitet. Es ist dann für den stillen Zuhörer köstlich zu sehen, wie sich
zwei im Gespräch Begriffene gegenseitig zu „überfeinem“ suchen. Unsere äusseren
Höflichkeitsformen kommen aus der schlichten Herzlichkeit, die sie früher hatten,
immer mehr in das versteift Gekünstelte. Man klappt die Fersen zusammen,
macht tiefsten Bückling und küsst die Hand, alles mit jener geräuschvollen Eckig-
keit, die den Neuangelernten so sehr in Gegensatz zum Aristokraten der alten
Schule stellt, dem diese Dinge natürlich waren. Die „gnädige Frau“ der alten
 
Annotationen