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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 11.1900

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Die Darstellung des Nackten und das Sittlichkeitsgefühl in der Kunst
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2g3 Bücherschau. 294

die Figuren nackt oder bekleidet sind, ja überhaupt
nichts mit dem Gegenstande der Darstellung. Man
kann so weit gehen zu behaupten, dass selbst die
sogenannten »gewagtesten Situationen« keusch
wiedergegeben oder durch die Kunst wenigstens
erträglich gemacht werden können. Auf der
Hochzeit Alexanders mit der Roxane, dem Gemälde
Sodoma's in der Villa Farnesina, wird dargestellt, wie
Putti die Braut entkleiden, um dem König ihre nackte
Schönheit zu zeigen. Kein Hauch anstössiger Sinn-
lichkeit stört die Poesie dieser Scene. Es giebt eine
Anzahl von Gemälden und plastischen Werken, welche
auf eine Arbeit Michelangelo's zurückgehen und
Leda mit dem Schwan darstellen. Selbst aus den
minderwertigen Nachbildungen lässt sich erkennen,
dass das Anstössige dieser Scene gänzlich aufgehoben
wurde durch die Wucht der entfesselten Leidenschaft
und den herrlichen künstlerischen Zusammenklang
bei dem sich ineinander schmiegen des Vogel- und
des Menschenleibes. In ähnlicher Weise hebt auf der
> Kirchweih< des Rubens im Louvre die urwüchsige
Gesundheit, die bei dem wilden Tanze der Bauern
und der sich heiss umarmenden Liebespaare zum
Ausdruck kommt, das Anstössige auf; aus demselben
Grunde erträgt man derartige Scenen auch auf vielen
anderen niederländischen Bildern des 17. Jahrhunderts.

Aus alledem erhellt, dass das, was anständig oder
unanständig, sittlich oder unsittlich in der Kunst j
ist, sich nicht in Gesetze fassen lässt. Schon bei
bereits historisch gewordenen Werken der Kunst
ist die Frage wegen ihrer Subtilität schwierig zu ent-
scheiden, noch weit schwieriger aber gestaltet sie sich
gegenüber Werken der modernen Kunst, weil wir
diesen viel zu subjektiv gegenüber stehen, um ein
durchaus objektives Urteil darüber zu haben. Aus
alledem erhellt aber auch, dass das Sittlichkeitsgefühl
in der Kunst nur auf der breiten Basis des Sittlich-
keitsgefühls im Volke entstehen und wachsen kann.
Nicht ein einzelner staatlicher Faktor wie die Polizei
oder der Richterstand kann mit dauerndem Erfolg
den Sittenwächter für die Kunst abgeben, sondern nur
das ganze Volk. Nicht durch Gesetze, sondern allein
durch die Hebung der sittlichen Anschauungen und die
Verfeinerung des Kunstgefühls im ganzen Volke lässt
sich eine wahrhaft sittliche Kunst erzeugen. Nicht
das richterliche Urteil, sondern die Zustimmung oder
Verwerfung des VoLkes muss das Sicherheitsventil
dabei abgeben. Das Interesse und das Verständnis
für die bildenden Künste hat in den letzten Jahr-
zehnten in Deutschland einen ungeahnten Aufschwung
genommen, aber doch sind wir noch weit davon
entfernt, dass das ganze Leben unseres Volkes von
Kunst durchsetzt ist. Dieser Zustand muss herbei-
geführt werden, wenn jene Selbstregulierung sicher
funktionieren soll.

Wenn sich nun auch, wie wir gesehen haben, die
Frage nach sittlich oder unsittlich in der Kunst mit
der Frage nach der Darstellung des Nackten nicht
durchaus berührt, so wird die letztere in dieser Be-
ziehung bei dem Laien doch immer im Vordergrund
stehen. Deshalb kommen wir noch einmal darauf

zurück. Warum, könnte jemand fragen, wird auf die
Darstellung des Nackten überhaupt ein so grosser
Wert gelegt, und kann die Kunst nicht ganz gut ohne
sie bestehen? Darauf ist zu antworten: Der Mensch
ist das edelste Wesen der Schöpfung, und die Dar-
stellung der menschlichen Gestalt ist die höchste Auf-
gabe der Kunst. Der Mensch, das komplizierteste
Gebilde der Natur, stellt bei seiner künstlerischen
Wiedergabe auch das schwierigste Problem. Die
Mannigfaltigkeit seiner Gliederstellung, die Verschiebung
der Muskeln gegeneinander, der Wechsel von Farbe
und Beleuchtung, der malerische Reiz der beiden
letzteren geben einen solchen Reichtum an zeichne-
rischen, plastischen und malerischen Motiven, wie sie
kein anderer Gegenstand der Kunst darbietet. Nur
die Darstellung des menschlichen Körpers ist der
wahre Prüfstein für das Können des Künstlers. Bei
Darstellung von Tieren, Gegenständen, Landschaften
wird ein Zeichenfehler, ja auch ein Fehler in Farbe
und Beleuchtung nicht so leicht offenbar wie
bei der Abbildung des Menschen. Die Eiferer
gegen das Nackte ziehen besonders gegen die
moderne Kunst zu Felde, aber gerade diese huldigt
der Darstellung des nackten menschlichen Körpers
nicht nur nicht zu reichlich, sondern im Gegen-
teil viel zu wenig. Der moderne Maler weiss sehr
i wohl, warum er diesem Problem meistens aus dem
Wege geht. Sein Streben ist auf die künstlerische
1 Komposition farbiger oder durch Licht und Schatten
wirkender Valeurs gerichtet. Er braucht zeichnerische
Unbestimmtheit, wenn die gewünschte Wirkung nicht
zum Teil zerstört werden soll. Nun lässt sich aller-
dings auch der Akt in diesem Sinne verwerten, aber
doch nur bis zu einer gewissen Grenze, und all zu
vieler Akte mit unbestimmten Konturen würde der
Beschauer bald überdrüssig werden. Auch die Plastik
hat sich, teils beeinflusst durch ihr Streben nach
dem Realen, teils nach dem Beispiel der Malerei, von
dem Akt immer mehr abgewendet. Bildnisbüsten
und Bildnisstatuen, beherrschen da das Feld; nur
noch in der dekorativen und in der Kleinplastik spielt
der Akt eine bedeutende Rolle. Wenn die Kunst
1 aber eine wahre Höhe erreichen will, dann wird sie
sich sowohl in Plastik wie Malerei dem mensch-
lichen Körper wieder mehr zuwenden müssen; nur
nach Absolvierung dieser Hochschule wird sie zur
Vollendung gelangen können.

Wenn durch häufige und wahrhaft künstlerische
Darstellung des nackten Menschen sich das Volk von
Jugend auf an deren Anblick gewöhnt haben wird,
dann wird das Nackte auch für den Laien alles An-
stössige verlieren, und er wird darin als in dem
höchsten Erzeugnis der Natur wieder etwas Heiliges
erblicken, wie in den besten Zeiten der Kunst.

M. G. Z.

BÜCHERSCHAU
Rom. Eine Publikation von Handzeichnungen von
ganz eigenartigem Interesse wird demnächst bei Colnaghi
Pall Mall in London zu erscheinen beginnen. Der Earl
of Pembroke auf Wilton-house hat sich entschlossen, die
 
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