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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 11.1900

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Dehio, Georg: Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik, [2]
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Verschiedenes / Inserate
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https://doi.org/10.11588/diglit.5771#0163

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309

Nekrologe.

310

noch bequemer aber und in den Motiven fruchtbarer
war ihr das Renaissancedetail. Ein tiefer greifender
Wandel wurde mit diesem Übergang nicht vollzogen,
wodurch auch die längere Zeit an der Tagesordnung
bleibende, scheinbar prinziplose Mischung gotischer
und renaissancemässiger Einzelformen ihre Recht-
fertigung empfängt. Das eigentliche Wirkungsfeld
dieser Kunstrichtung ist nicht die Architektur selbst,
sondern deren dekoratives Beiwerk, sind die Lettner,
Chorschranken und Chorstühle, die Altäre, Sakraments-
häuschen, Kanzeln, Grabmäler u. s. w. Mit ihnen
muss man sich die spätgotischen Kirchen gefüllt
denken, um deren Behandlung zu verstehen. Z. B. die
Rückkehr zu grösseren geschlossenen Mauerflächen.
Sie hat nicht etwa der Klärung des Raumeindrucks
zu dienen, ihr Zweck ist vielmehr, einen ruhigen
Hintergrund zu gewinnen für die bunte Welt der
oben genannten Ausstattungsstücke und in der Aussen-
ansicht des Gebäudes für die auf einzelne Punkte
in frei malerischer Wahl gesammelte Dekorationspracht.
Einen eigenen Namen haben wir für diesen bald in
gotischem bald in renaissancemässigem Gewände auf-
tretenden, in Wahrheit von der echten Gotik ebenso
weit wie von der echten Renaissance entfernten
seinen Schwerpunkt in der allgemeinen malerischen
Erscheinung suchenden, also im Grunde stillosen Stil,
noch nicht. Und ebenso schwierig ist es, beim
Mangel augenfälliger Kriterien, seine zeitlichen Grenzen
zu bestimmen. Wegen seines Zusammengehens mit
jener Richtung der Malerei und Bildhauerei, für das
ich die Benennung »neugermanisch« in Vorschlag
gebracht hatte, könnte diese auch für ihn in Betracht
kommen. Keineswegs aber möchte ich auf eine
solche Umtaufung dringen. Für den praktischen Ge-
brauch wird die Scheidung in Spätgotik und in
»deutsche, französische u. s. w. Renaissance« wohl
immer nützlich bleiben.

[II.

Auf die von Schmarsow und Haenel vertretene
Renaissancetheorie fällt ein eigentümliches Licht durch
die dritte der zu besprechenden Schriften, von Moriz-
Eichborn1). Diese zeigt, dass man mit derselben
Methode auch zu ganz anderen Resultaten kommen
kann. Auch Moriz-Eichborn unterscheidet zwischen
Renaissance und »Renaissance (S. 212 und passim).
Mit Gänsefüsschen geschrieben bedeutet ihm das
Wort den herkömmlichen (auch ihm unentbehrlichen!)
Begriff, ohne Gänsefüsschen einen erweiterten neuen.
Die Grenzen der Eichborn'schen Renaissance sind
von denen der Schmarsow'schen sehr verschieden.
Schmarsow rechnet von der Mitte des 13. Jahrhunderts
bis zum Ende des 18., Eichborn von der Mitte des
12. Jahrhunderts bis zur Mitte des 16. (S. 214 und
410). Gleichwohl ist das Prinzip der beiden Ein-
teilungen dasselbe, nämlich der »Individualismus«.

1) In der Anzeige des Verlegers führt sie den, später
unterdrückten, Nebentitel: Eine Untersuchung über die
Anfänge der Renaissance im Norden. Derselbe wäre
durch den 95 Seiten umfassenden dritten Teil »Gotik und
Renaissance« ganz gerechtfertigt gewesen.

; Eichborn meint jedoch, es sei kein Grund, wie die
I Freunde der »nordischen Renaissance« es bisher ge-
than haben,5beim 14. Jahrhundert Halt zu machen;
man müsse rdie Spuren des Individualismus weiter
: zurück verfolgen; dann zeigte sich der wahre Ursprung
I der Renaissance in den Skulpturen des Westportals
I von Chartres (bald nach 1150); die Bildwerke des
13. Jahrhunderts in Strassburg, Freiburg, Naumburg
seien schon erste Höhepunkte, Masaccio und die van
Eycks nur leichte Einschnitte im ununterbrochenen
Fluss der »neuchristlichen Kunst« alias Renaissance.

Man könnte vielleicht geneigt sein, mit einem
Scherz über den jungen Revolutionär zur Tagesordnung
überzugehen. Aber man thäte ihm damit Unrecht.
Eichborn entwickelt reiche Kenntnisse, bewegt sich
in klaren und folgerichtigen Gedankengängen; was
ihm jedoch gänzlich fehlt, ist der gesunde Sinn für
das historisch Wirkliche; er ersetzt es durch eine
willkürliche Auswahl von Abstraktionen. Wenn man
weiterhin so verfährt wie er — und wie im Prinzip
nicht anders, nur etwas vorsichtiger, alle Verteidiger
der »nordischen Renaissance« verfahren sind — d. h.
| wenn man aus der konkreten Erscheinung eines
historischen Stils eine einzelne Eigenschaft als die
angeblich allein wesentliche heraushebt und dann
jedes ältere Auftreten dieser Eigenschaft für ein
Lebenszeichen des betreffenden Stils erklärt: dann
giebt es keinen Halt und keine Grenze mehr. Man
; könnte nach dieser Methode z. B. die Anfänge des
gotischen Stils leicht bis zum Jahre 1000, wenn man
Lust hat aber auch bis zu den Römern (verhehlte
Diagonalgurten) hinaufrücken u. s. w.

Nur mit aufrichtigem Bedauern kann ich die Ver-
wirrung ansehen, die der Begriff der Entwicklung in
dem Kopf des von ehrlichem wissenschaftlichen
Streben erfüllten Verfassers angerichtet hat. Sicher
steckt das Huhn schon im Ei, wie das Ei in der Zelle;
aber was für eine wissenschaftliche Terminologie wäre
das, die für Huhn, Ei und Zelle nur einen Namen
zulassen wollte? Oder ein Gleichnis aus dem historischen
Gebiet. Durch das ganze Mittelalter, in zunehmender
Menge in den letzten Jahrhunderten desselben, gehen
1 Äusserungen der Opposition gegen die herrschende
1 Kirche, analog den gelegentlichen Äusserungen des In-
| dividualismus gegen den Konventionalismus in der
i Kunst; sollen wir deshalb leugnen, dass mit der Re-
formation des 16. Jahrhunderts ein neuer Abschnitt
beginnt? Was die Reformation für die Kirchen-
1 geschichte ist, das ist die Renaissance für die Kunst-
j geschichte. Die eine wie die andere ist vorbereitet
gewesen, aber Vorbereitung ist nicht Erfüllung, Spur
nicht Ziel. Wie die Welt- und Kirchenhistoriker dem
Zeitalter der Reformation eine bestimmte Umgrenzung
geben, so sollen wir Kunsthistoriker es auch mit der
Stilperiode der Renaissance halten. Jede versuchte
Erweiterung führt ins Grenzenlose.

NEKROLOGE
Weimar. Am 11. Januar starb hier ein Künstler, der
sich durch seine Arbeiten einen geachteten Namen erworben
hatte und trotz seinem hohen Alter — er ist nahezu 82
 
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