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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 24.1913

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Kunstgwerbliche Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.4432#0104

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KUNSTGEWERBLICHE RUNDSCHAU

NEUE BÜCHER
o Der Tabak in Kunst und Kultur. (Festschrift von
Joseph Feinhals zum fünfzigjährigen Bestehen der Firma.
Köln 1911.) — Eine rein formalistische Auffassung der
Kunstgeschichte geht nicht an. Die Entwickelung der Form
an sich zu immer größerer Intensität und Durchsichtigkeit
ist das sichtbare Zeichen der Entwickelung überhaupt, ihr
Symbol gleichsam, aber nicht der Prozeß. Immerhin bildet
das formale Moment im Aufbau einer Epoche den Rücken-
wirbel, auf den andere sich aufsetzen lassen, womit der
Strang entsteht, der sich durch alle historischen und geo-
graphischen Stilverschiebungen hindurchzieht und sie hält,
ln diesen geschichtlichen und völkischen Verschiebungen
des Schwerpunkts in der Kunst liegt das Organismische,
in diesem Stirb und Werde die Möglichkeit des Entwicke-
lungsprozesses. Man kann sie, das Kulturhistorische im
weiteren Sinne, bei der Betrachtung der Kunstgeschichte
nicht ausscheiden. Abstrahiert man dabei auf die Geschichte
der ständischen Entwickelung und weiterhin der Umwand-
lungen der wirtschaftlichen Interessen, das heißt auf die
Geschichte des Handels, so findet man, daß die Kunst mit
der Tendenz der demokratischen Dezentralisation geht, und
ihren Höhepunkt unter einem merkantilischen Maximum
erreicht. Solange auf dem festländischen Europa die Agri-
kultur herrschend ist, ist dort an die Tatsache oder auch
nur an die Möglichkeit einer Entwickelung oder gedeihlichen
Pflege der christlichen Kunst nicht zu denken. Sie bleibt
solange auf die Inseln des Mittelmeeres angewiesen, wie
auf dem Festland der Geldverkehr sich nicht hebt und die
Bedeutung des Grundbesitzes einer erhöhten Wertung des
Handels nicht Platz macht. Mit dessen Ausdehnung gewinnt
die Kunst Boden und kommt mit dem Handel in den
Städten Florenz und Venedig jenseits der Alpen, und Nürn-
berg, Augsburg und anderen diesseits auf die Höhe. Als
aber die Türken den Osten besetzen und damit der Weg
nach Indien verlegt ist, sucht sich der Handel einen anderen,
freieren Weg. Die Entdeckungsfahrten beginnen; ihr Er-
folg zieht den Handel von den deutschen und italienischen
Städten ab nach Spanien, Portugal und den Niederlanden hin.
Die Kunst geht mit dem Kaufmann. Der Schwerpunkt
ihrer Entwickelung liegt nun für einige Zeit in den Nieder-
landen. Frans Hals und Rembrandt bezeichen ihn. Es dauert
aber nur so lange, wie sich die Niederlande und ihre Frei-
handelspolitik gegen das mare clausum der Engländer
halten können. Dann, und als Colbert den wirtschaftlichen
Aufschwung Frankreichs einleitet und diesen Staat zur
größten Industriemacht gestaltet, verfällt ihre Größe, und
die Kunst zieht sich von den zurückgehenden Niederlanden
ab nach Frankreich hin. (England bekommt, wie vordem
Spanien, sein Teil.) Mit dem französischen Kreditwesen
machte damals das Rokoko seinen Weg über ganz Europa.
Wenn hier der Faden abbricht, so liegt das daran, daß von
nun ab die Kunst sich nicht mehr in Stilen abwandelt,
sondern in Moden verfällt. □
□ Große Züge der Entwickelung, wie sie eben gezeigt wurden,
werden natürlich durch eine Reihe einzelner und bescheiden,
fast lächerlich ansehender Fälle bewirkt, die in dieselbe
Richtung fallen. Man darf über die Fälle feudalen Mäzenaten-
tums nicht hinwegsehen, aber tatsächlich liebten es doch
besonders die reichen Kaufherrnfamilien, ihre Namen
mit zahlreichen Werken der Kunst zu schmücken. Ohne
Zweifel geschah das in tendenziöser Absicht. (War es
bei Ludwig XIV., Napoleon oder dem bayrischen Ludwig
anders?) Außer diesen Gelegenheiten der sporadischen
Anwendung kommen noch in Betracht die in der Ausführung
unzähligen Fälle der systematischen Anwendung der Kunst
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auf den Verkehr zwischen Kaufmann und Abnehmer direkt:
in ihrem Gesamtergebnis jene künstlerischen Erzeugnisse,
die nicht um ihrer selbst willen künstlerisch gebildet wurden,
wie anders Becher oder Teller; jene Dinge, die nicht in
ihrer künstlerischen Gestaltung das Axiom ihres wirtschaft-
lichen Wertes tragen, nicht selbst Ware darstellen, sondern
dazu da sind, einer Ware erst zu dienen: Packungen, Ge-
fäße usw. An sie scheint besonders in Deutschland die
kunstpädagogische Praxis anzuknüpfen. Es ist bedeutsam,
daß die ersten abgeschlossenen Dokumente einer neuen
Zeit in Gestalt von drei (auch hier besprochenen) Heften
»Monographien Deutscher Reklamekünstler« vor uns liegen
— nicht von Künstlern, die Möbel oder Häuser entwerfen.
Unter dem Gesichtspunkt Kunst und Kaufmann gesehen,
ist die moderne Bewegung nichts als die zielbewußte Aus-
gestaltung eines historischen Verhältnisses. Kurzsichtigen,
die hie und da aufstehen (»Man bemüht sich in jüngster
Zeit . . . Die Kunst, die aber steht uns zu hoch, als daß
wir sie zu Anreißerdiensten der Profitmacherei entwürdigen
möchten. — Die Zerstörungswut der Bilderstürmer packt
einen manchmal, wenn man sieht, wie gottbegnadete
Künstler, die einst in Bau und Schmuck der Gottes- und
Rathäuser ihre Aufgaben fanden, heute ihr Talent an Waren-
und Speisehäuser prostituieren«. U. s. f. Benno Jaroslav,
»Ideal und Geschäft«. Jena, 1912.), kann man diesen hi-
storischen Zusammenhang nicht nah genug vor Augen
halten; auch muß man sie darauf aufmerksam machen, daß
eine Veränderung der materiellen Schichtung in der Kunst
stattgefunden hat, daß das Büro-, Speise- und Warenhaus
das Monument unserer Zeit ist, und schließlich — wenn
auch die Myopie jener trotz allen Eiferns da nicht zu Hause
ist —, daß sich in der Erscheinungsform der Kunst eine
Entwickelung zugetragen hat. Sie ist immer differenzierter
geworden; infolge der Egozentralisiernng aller Ausdrucks-
form verlangt sie zu ihrem Verständnis zu viel Prämissen,
als daß sie dem Laien ohne weiteres verständlich sein
könnte. Es hat sich naturgemäß und naturnotwendig eine
deutlich getrennte Vorstufe abgezweigt und ausgebildet,
durch die hindurch der Weg zur Hohen Schule des Kunst-
sinnes führt. Und ganz allgemein: angewandte Kunst und
freie Kunst haben jede ihr eigenes Ethos und folglich ihre
eigene Ästhetik. Jene scheint mir doch dazu da zu sein, an-
gewandt zu werden. Das aber heißt, sich zwischen zwei
Ethos setzen, wenn man so schreibt, wie Jaroslav in dem
ersten ziterten Satz. Durch die Overbeck-Romantik wird
der Satz von dem religiösen Bildersturm im Speisehaus
nicht besser. Der Verfasser scheint nicht gut, aber zuviel
gegessen zu haben. — o
n Die vorliegende Monographie vom »Tabak in Kunst und
Kultur« führte die vorhergehenden Auseinandersetzungen
sehr glücklich herbei, denn sie illustriert zugleich diejenigen
historischen und modernen Zusammenhänge von Kunst
und Kaufmann, die wir heute in ihrer Systematisierung
»Reklamekunst« nennen. Als Genußmittel verlangte der
Tabak nach einer Anpreisung; die Art seiner Verkaufspackung
(in Papierpaketen) gab den Anlaß zu einer so weitgehenden
Anwendung der Kunst für diesen Zweck wie bei keiner
anderen Ware. Hinzu kommt, daß der Tabak vom ersten
Augenblick an überall aktuell war und auch in seiner Auf-
machung den höheren oder vulgären aktuellen Witz ge-
brauchte. Das rief die Nachfrage nach stets neuen Zeich-
nungen hervor. Eine Sammlung von Tabakpackungen (wie
die Monographie sie zeigt) ist eine Revue kulturhistorischer
Anekdoten, wobei die erste Eisenbahn, das erste Dampfschiff,
englische Prisen und die Wut Napoleons in manchmal vor-
züglicher Eigenform auf die Bühne kommen. Da der Tabak
das Gennßmittel des reichen Mannes war, befleißigte man
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