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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 8 (2. Januarheft 1902)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0426

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IliterLtur.


* Ueber den Unierschied zwischen
dichterischer und rednerischer
Sprache sich klar zu werdsn, ist viel-
leicht die allererste Vorbedingung für
einen jeden, der sich über das Wesen
dichterischen Genusscs überhaupt klar
iverden will. Jst deshalb im Kunst-
wart schon sehr viel davon gesprochen
worden, so empfiehlt sich's viclleicht
noch außerdem, in kleinen Amvendungen
auf den einzelnen Fall Beispicle
dafür zu besprechen. Da rcdeten wir
neulich von Dehmel. Die Eingangs-
verse, daß der Schöpfung „schöne Hülle"
„ihre Fülle" nur dem erschließe, „dessen
eigne Art die Art des Schöpfers offen-
bart", nannten wir einc „gereimte Er-
klärung in dürrer Versprosa". Durften
wir das? Begeistert war das doch
gewiß gcsprochen! Freilich, aber auch
üer Redner kann begeistert sein, und
Dshmel ist hier nur ein Nedner, der
sich begrisflich zu unserm Verstande
wendet. Wie würde cinDichtersprcchcn?
Der Zufall will's, daß Goethe fast die-
selbe Jdee ausgedrückt hat. „Wür
nicht das Auge sonnenhaft, die Sonnc
würd' es nicht erblicken". Das ist
dichterisch, weil es uns stati des Be-
griffes eine Anschauung gibt, aus
der wir nun die Erkenntnis ohne wei-
teres entnehmen, wie auS irgend ctwas,
was wir mit unsern Augen sehcn, das
heißt: was wir miterleben. Dchmel cr-
zählt uns von etwas, Goethe zeigt
eS uns. Das ist es, was wir „ge-
stalten" nennen, und cben dieses Gc-
stalten, das beim Verfasser selbst die
stärkste Phantasiebethätigung voraus-
setzt, ist das Schaffensmerkmal beim
„Scher", bcim Dichter.

Ein zweiteS Beispiel aus unsrer
Besprechung Dehmels.

„Wie mit zauberischen Händcn
Greifeu Träumc in mein Leben,
Will ein AlteS sich vollcnden,

Will ein Noucs sich bcgeben?"
Runstwart

Hier sind die drei crsten Vcrse gestaltet
(denn auch das „vollenden" braucht
nur intensiv als volles Enden erfaßt
zu wcrden, so ist es dichterisch), aber
beim vicrten Vers trat die Ermattung
cin — das „sich begeben" kann auch
üie empfänglichste Phantasie nicht mehr
zur Anschauung machen. Auf ein feines
inneres Ohr wirkt es ganz genau so, wie
auf ein feines Auge es wirken wiirüe,
etwa an cincr schöncn Marmorhand
dcn eincn Finger durch einen Papier-
wickcl ersetzt zu sehn. Aufgehoben
braucht auch für dieseS der Gcnuß an
cincm sonst schöncn Werkc dadurch
noch nicht zu werden (denn das setzte
voraus, daß wir an dem Mangcl haf-
ten bliebcn), abcr gestört wird er
dadurch. Es ist cben ctwas WesenS-
fremdes, wasda plötzlich in die Wirkung
kommt, und so die organische Einheit
aufhcbt: nachüem ich bis jctzt im Ge-
nusse der innern Anschauung war,
versagt sie plötzlich, und ich werde HalS
über Kopf in das andre Stockwerk ge-
schickt, in dcm man Begriffe verrechner.
Gewiß, durchauS nicht allc empfinden
hicr Nnlust. Nämlich keiner dcrjenigen,
die auch vorher das Dichterischc nur
als Redncrisches aufgefaßt haben. llnd
wcnn man, mit Theodor Storm, wirk-
lich erfassendc Leser von Dichtungen
für ebcnso seltcn hält, wie wirkliche
Dichter, so wird einen die allgcmeine
Kritiklosigkeit in dicsen Dingen nicht
wciter verwundern. UnS thut eine
„literarische Erzichung" zum mindestcn
so sehr wic eine künstlerische not, und
wir unserseits werden uns gar nicht
scheuen, wie Lichtwark „llebungen im
Bilderbesehn" angestcllt hat, so „lleb-
ungen im Gedichtlesen" zu versuchen.

Aehnlich wie bei den eben bespro-
chenen Entgleisungen auf der Phantasie-
fahrt liegt die Sache bei dem so-
genannten „schiefcn Bildc". Nehmcn
wir ein Bcispiel aus Wildenbruch:
 
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