Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1902)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunsthandwerks für 1903, [2]: Literatur
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0226
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
^iteratur.

Aeltere deutsche Literamr.

Unsre Ratschläge sind nicht sür Literarhistoriker noch für „selbst produ-
zierende" Leute als solche bestimmt, sondern schlechtweg für gebildete Männer
und Frauen, die aus den Quellen frisch Wasser in ihr Haus tragen wollen, um
mit gutem Tranke Len Durst zu lvschen. Wer eine Bibliothek Ler deutschen
Nationalliteratur haben will, braucht sich natürlich nicht den ganzen Hempel
oder Kürschner anzuschassen. Daß unsere Bücher für uns wirklich leben, das
ist die Hauptsache, und der Literaturfreund kann bei der Zusammenstellung
seiner Bücherei mit bestem Gewissen seiner persönlichen Neigung, seiner „Liebe"
Ln weitem Maße nachgehen. Jst er ein tiefer und tüchtiger Mensch, so kommt
er schließlich doch zu den wahrhaft Großen, vor allem zu Goethe, der nicht
nur viele Wege weist, sondern zu dem auch viele Wege führen.

Aus der deutschen Dichtung des Mittelalters kommen wohl nur das
Nibelungenlied, Gudrun, die Gedichte W alth e rs v on d er Bo g e l-
weide, Wolframs „Parzival" und Gottfried von Str aß burgs „Tristan
und Jsolde" in Betracht. Wer es vermag, lese diese Dichtungen in der Ur-
sprache, wer nicht, behelfe sich mit Uebersetzungen, von denen bei den drei ersten
Werken immer noch Simrock, bei den beiden letzten Wilhelm Hertz der Vorzug
zu geben ist. Jm Notfall genügt auch Reclam, bei dem nur „Tristan und
Jsolde" fehlt, doch ist dort die Jmmermannsche Umarbeitung zu finden.

Zu dem Grundstock einer Bibliothek der deutschen Nationalliteratur sollten
dann die Volkslieder, Volksmärchen und Volksbücher gehören. Von
den Volkslieder-Ausgaben ist jetzt auch die vorzügliche Uhlandsche (bei Cotta)
billig zu haben, Reclam hat „Des Knaben Wunderhorn". Die Grunmschen
„Kinder- und Hausmärchen" findet man gleichfalls vollständig bei dicsem und
ebenso die Volksbücher in der Schwabschen Bearbeitung — beide Werke kommen
auch schon sür die Jugend in Betracht.

Aus dem Resormationszeitalter hat vor allem Luther Anspruch auf
Berücksichtigung; wer's kann, sollte sich seine „Gesamtwerke" erwerben, zumal
wenn er selber gelegentlich „schreiben" muß — man glaubt gar nicht, was aus
diesem ersten Klassiker deutscher Prosa alles zu gewinnen ist. Hans Sachs
(eine Auswahl seiner Schwänke und Dramen hat Reclam) macht auch immer
wieder Freude, Fischart dagegen erfordert schon einen besondern Geschmack.
Das poetisch beste Werk desReformationszeitalters ist bekanntlich der „Reineke
V o s"—den haben wir in unserm Goethe, aber ein Niederdcutscher sollte stolz
darauf sein, ihn auch in dcr Ursprache zu lesen.

Das Kirchenlied von Luther bis auf Paul Gerhardt und weiter hinaus
haben wir in unsern Gesangbüchern. Sonst ist aus der Opitzischen Periode wenig
lebendig, einige Lprik, die man in den bessern Anthologieen findet, einiges
Epigrammatische. Aber der erste wirklich lesbare deutsche Roman sällt in diese
Zeit, Grimmelsh ausen s „Simplicissimus", ja, alle „simplicianischen Schrif-
ten", die H. Kurz herausgegeben hat, sind noch durchaus genießbar und nicht
bloß aus kulturhistorischen Gründen interessant. Was wäre der deutsche Roman,
wenn Grimmelshausen die rechte und stätige Nachsolge gesunden hüttel

Johann Christian Günth er ist der erste neuere üeutsche Lyriker, in
üessen Gedichten eigenes volles Leben steckt, aber man dringt nicht leicht dazu
durch oder vielmehr, es fehlt noch die uns heute zum Genuß unentbehrliche
lyrische Form. Eine Auswahl Güntherscher „Strophen" hat W. v. Scholz

Vunstwart
 
Annotationen