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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

DOI Heft:
Heft 13 (1. Aprilheft 1907)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Tolstoi contra Shakespere
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0016

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Tolstoi eontra Shakespere

Fragt mich ein junges Menschenkind, dessen Geist auf die Höhen
will, um bewährten Rat, so kann ich ihm einen wenigstens geben,
von dem ich weiß: befolgt es ihn, so zahlt sich das aus. »Gewöhne
dir nicht nur die Redensart, gewöhne dir auch den Gedanken ab
und jage alle Gefühle weg, die um ihn nisten, den Gedanken: »d a s
mag ich nicht, denn es verletzt mich«." Ich weiß ja: „alle
Welt" hatschelt heut gerade diesen Gedanken, aber das ist nicht
schmeichelhaft für „alle Welt". Es beweist: „alle Welt" ist eine
Schwachmatika, die sich auf den eignen Beinen nicht sicher fühlt,
sonst hätte sie nicht so viel Sorgen vor einem „Choc". Es beweist,
„alle Welt^ ist feige, sonst sürchtete sie sich vor einem Kaltwasserguß
nicht, der gerade recht zeigen kann, ob Blut im Leibe ist, weil es
nach dem „Choc" um so srischer und wärmer in die Haut strömt.
Es beweist, „aller Welt" ist's wichtiger, daß sie ihre Gedänklein
und Gesühlchen in Watte gepackt weiter transportiert, als daß sie
überprüft und übt, berichtigt und stärkt im Auseinandersetzen mit
dem da draußen. Und es beweist, „alle Welt" ist töricht, denn „alle
Welt" weiß nur von ihren guten Freunden zu profitieren. Wir
aber — nicht wahr, mein Iunge oder mein Mädel? — wir wollen
so gescheit sein, auch den Gegner, ja den Feind zu zwingen, sein
Gedankengut mit uns zu teilen.

Mir hat diese Weisheit ein Zufall handgreiflich gemacht. Goethe
war schon in früher Iugend recht eigentlich mein Abgott. Da geriet
ich über Wolfgang Menzel, den Goethetöter. „Oho, was unterstehst
du dich?" Rnd diesem Lästerer hatte noch keiner die Wahrheit gründ-
lich gesagt? Wenigstens nicht, daß ich's wußte! Also war das meiner-
seits zu besorgen, gegen meinen wehrlosen Olympier einfach die Pflicht
der Dankbarkeit. Demnach sraß ich mich, strotzend von Empörung,
meinerseits in meinen Goethefresser hinein. Aber die löbliche Absicht
zwang, das nachzudenken, was er sagte. Sonderbar, es klang
nicht dumnN Anangenehm: es klang gescheit! Neben dem Goethe,
den ich sah, wuchs mir allmählich der Goethe auf, den Menzel
sah, und nun liefen zwei Goethe nebeneinander in meinem Kopfe
herum. Mit der Zeit ward wieder einer daraus, nur von zwei

t- Aprilhest 1
 
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