Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1907)
DOI Artikel:
Simmel, Georg: Venedig
DOI Artikel:
Lose Blätter
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0364

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vertrautheit und „Gemütlichkeit^ diesem Leben gibt, dem jede Spur
von Gemüt fehlt; zweideutig das Doppelleben der Stadt, einmal
als der Zusammenhang der Gassen, das andre Mal als der Zu-
sammenhang der Kanäle, so daß sie weder dem Lande noch dem Wasser
angehört — sondern jedes erscheint als das proteische Gewand, hinter
dem jedesmal das andre als der eigentliche Körper lockt; zweideutig
sind die kleinen, dunkeln Kanäle, deren Wasser sich so unruhig regt und
strömt — aber ohne daß eine Richtung erkennbar wäre, in der es
fließt, das sich immerzu bewegt, aber sich nirgends hinbewegt. Daß
unser Leben eigentlich nur ein Vordergrund ist, hinter dem als das
einzig Sichere der Tod steht — dies ist der letzte Grund davon, daß
das Leben, wie Schopenhauer sagt, „durchweg zweideutig« ist; denn
wenn der Schein nicht aus einer Wurzel wächst, deren Säfte ihn
in einer Richtung halten, so ist er der Deutung jeder Willkür
preisgegeben. Nur der Kunst ist es in ihren glücklichsten Augen-
blicken verliehen, in den Schein ein Sein aufzunehmen und dieses
zugleich mit sich selbst zu bieten. Ilnd darum ist die Kunst erst voll-
endet und jenseits der Künstlichkeit, wenn sie mehr ist als Kunst.
So ist Florenz, das der Seele die herrlich eindeutige Sicherheit einer
Heimat gibt. Venedig aber hat die zweideutige Schönheit des Aben-
teuers, das wurzellos im Leben schwimmt, wie eine losgerissene Blüte
im Meere, und daß es die klassische Stadt der Aventure war und
blieb, ist nur die Versinnlichung vom letzten Schicksal seines Ge-
samtbildes, unsrer Seele keine Heimat, sondern nur ein Abenteuer
sein zu dürfen.

Berliu GeorgSinrmel

Lose Blätter

Eine neue VolksdichLerin: Emma Flügel — „Ernst Dahlmann"

s^Anter dem Nameu „Ernst Dahlmann" schreibt sie, und Emma
Flügel heißt sie. „Ist sie auch wirklich eine Volksdichterin?" fragt der
Leser. Wenn man unter Volksdichtern Literaten versteht, die im Bewußtsein
ihrer Aberlegenheit vom hochgeschraubten Drehsessel ihrer Kultur herab
den kleinen Leuten doch auch mal was geben, dann ist sie keine. Wenn
man Kolportage-Schmierer darunter versteht, erst recht nicht. Auch dann
nicht, wenn man bei dem Wort „Volksdichter" nur an solche Arsprüng-
liche denkt, die ganz fern von der Zivilisation zwischen Kühen und Läm-
mern aufgewachsen sind und nun für die innerlichsn Gesichts, die aus
ihren Hirnen und Herzen ins Freie drängen, nach den erlösenden Worten
tasten. Aber wenn ein Kind des Volkes, das durch Armut, Not und
Rnglück mannigfacher Art sich immer arbeitend immer aufwärts ge-
rungen und das währenddem die Gestalten rings um sich wirklich gesehen
und wirklich gefühlt hat, wenn solch ein Volkskind diese Gestalten für
seine Volksgenossen nun wirklich darstellt, — ich meine: wenn man s o
eins einen Volksdichter nennen will, so ist „Ernst Dahlmann" einer.
Man lefe die folgenden Stellen aus ihrem Buch und vergegenwärtige
sich alsdann: das schrieb eine niedersächsische Bauerntochter, die als
Käsehändlerin neben dem Hundewagen hergelaufen ist, die mit Malz-
kaffee im Handkörbchen hausiert, die Bäumchen auf dem Weihnachtsmarkt

2. Iuniheft G0? 2vz
 
Annotationen