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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 3 (1. Novemberheft 1912)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0253

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Vorn Heute fürs Morgen

Fünfzig Iahre nach
Llhlands Tod

enn wir heut seiner gedenken,
mag sein, so wird uns zumut,
wie dem Wanderer im farbensatten
Herbst, wenn er aufschaut: „Irr ich
mich nicht? nein wirklich, droben
singt eine Lerche!" Es kommt ja
vor, daß eine so spät noch vom
Frühling träumt, und dann bringt
sie das Frühlingsträumen auch mit
zu uns, etwas anderes als den un-
mittelbaren Frühlingsgenuß. Wir
„Fortgeschrittenen" unter den Heu-
tigen genießen auch Ahlands selten
noch unmittelbar, es ist uns seit
ihm zu viel „Neugetön" durch
Ohren und Kopf gegangen. Er
war auch nicht der Größte unter
den nachgoethischen Lyrikern, für
den man bei seinen Lebzeiten ihn
fast allerwärts hielt. Wer weiß
heut nicht, daß die wundersamste
Feinheit und die reichestgefüllte
Innigkeit der nachgoethischen Lhrik
bei Mörike war! Aber auch darin
war er frühlinghaft, daß er vor der
neueren deutschen Lyrik als ein
Tonweisender herschritt, ohne den
vielleicht niemals das Volksmäßige
und das Gesunde so hohen Wertes
befunden wäre, wie es gottlob in
der Lyrik unsrer „silbernen" Litera-
turzeit ward. Wie viele später be-
rühmte Gedichte finden sich in
Stellen bei Uhland wie voraus-
geahnt, sein größter Ruhm aber
wird seine Durchdringung mit
Volksliedgeist bleiben. Man darf
es sagen: in ihm sang das deutsche
Volk selber mit seiner reichsten
Seele noch einmal im neunzehnten
Iahrhundert auf. Er brauchte sich
nicht „herabzulassen" oder „anzu-
passen", mit all seiner hohen Bil-

dung w a r er Volk, sobald er von
den ewigen Lrlebnissen sang, die
allen Menschen gemeinsam sind.
Man vergleiche Achlandsche Lieder
im Volkston mit Dahns in ihrer
Art durchaus nicht unschönen
„schlichten Weisen", um sofort das
Wesen im Ankerschiede zu spüren.

Aber davor sollten wir Heutigen
uns hüten, wegen dieser Volks-
mäßigkeit keine rechte Kunst bei
Achland zu sehn. Es tönt in ihm
nicht immer mit voller Resonanz
seines ganzen innern Menschen-
tums, und dann singt er wohl zu
sehr davon, daß er singt, schildert,
statt zu zeigen, reflektiert, statt füh-
len zu lassen. Daß man ihn zu
seinen Lebzeiten sür den größeren
Lyriker als Mörike hielt, wird
immer als eins der schlagendsten
Zeugnisse dafür gelten, wie lang-
sam sich die Mitwelt in tiese Lyrik
einsühlt. Aber in Werken sowohl
kleiner wie in großen lyrischen
Formen hat Ahland doch so ge-
bildet, daß seine Arsprünglichkeit
sich wie Naturkraft überträgt, nur
aber schlackenarm, — und wie ginge
das an ohne echte Kunst. Man
denke des Vierzeilers „O brich nicht,
Steg" — ward das Gefühl des Lie-
benden, der heimkehrt, hier nicht
wie für nlle Ewigkeit zum strah-
lenden Kristall? Man benke der
großen Balladen — lebt in ihnen
nicht das deutsche Gefühl von Hel-
denzeiten in Gestalten, die auf
Iahrzehnte hin die Einzelnen auch
heut noch wie mitlebende Freunde
begleiten können? Wenn nur die
Nachfahren ihrerseits bereit sind,
mit ihnen zu verkehren, und gesund,
stark, kernig genug, um nicht bloß
im Modischen das Wertvolle zu
sehn.

h Novemberhest 1912

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