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Kunstwart und Kulturwart — 26,1.1912

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1912)
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Balkankrieg-Nebengedanken
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https://doi.org/10.11588/diglit.9024#0365

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Iahrg.26 Erstes Dezemberhest 1912 Heft5

Balkankrieg-Nebengedanken

^^n Cetinje gibt es einen Operettensaal, darin spielen Wander-
^^trüppchen nach, was in Paris, Wien und Moskau Neues von
^IOffenbachs Nachsolgern vorgepfifsen wird. Ist aber die Spiel-
zeit um, so komrnen aus dem ärmlichsten aller Länder von Schaf-
herden und alten Heldengesangen her fast überhoch gewachsene und sast
finster dreinschanende Männer in alten Volkstrachten eben hier zu-
sammen, um von Arbeiten und von Kämpsen zu reden, denn eben
in diesem selben Saal tagt nunmehr das montenegrinische Parlament.
Line Ortsverbindung, die als solche wieder operettenhaft anmutet.
Wie eine Menge andrer Lrscheinungen aus dem Balkanorient.
Wie eine Menge von geschichtlichen Tatsachen dort. Kein Wunder
also, daß die Welt, die nur mit den ersten Blicken prüst, daß die
Operettenwelt der Bühnen wie der Zeitungen ihre Gestalten selbst
mit besondrer Vorliebe aus den Balkanländern geholt hat. Und
nicht einmal ein Wunder, daß in.der großen öfsentlichen Meinung
der Vielen alles einen Operettenzug bekam, was da irgendwo hinter
Osterreich hervorkam, irgendwoher aus „Schlavonien^. Aber mußte
es sein, daß den Vielen so wenige von den Wenigen entgegentraten?
Daß uns all die Balkanslawen immer nur als komisch-verächtliche
Figuren geschildert wurden, als Hammeldiebe, als Wanzenzüchter, sie
alle, welche die „Balkan-Lrwerbsgenossenschaft m. b. tz." gründeten,
von der so ziemlich in allen unsern Zeitungen noch bei Beginn des
Krieges die Rede war? Wie oft hat man ernsthaft von diesen Men-
schen gesprochen, verglichen damit, wie oft man in Wißblattweise von
ihnen sprach! Rnd die Witzblätter selbst, wie billig haben sie ihre
Späße aus dem Schäumen vom letzten Oberflächenwasser gefischt, wo
ein wenig Schürsen Goldsand der Komik, ja sogar Demanten von
echten tzumoren erbracht hätte!

Nun ist es plötzlich nicht mehr das Balkantreiben, sondern Euro-
pens öffentliche Meinung, was einem operettenhaft erscheint. Von
der Diplomatie reden wir dabei gar nicht, denn das brächte uns aufs
Materielle dieser Vorgänge, und davon könnten wir nur kanne-
gießern. „Die" Diplomatie ist sicherlich nicht so „dumm" gewesen,
wie sie noch beim Spott über den 8tLtn8 guo-Vorschlag hingestellt
wurde — wer außer den ganz wenigen ganz Eingeweihten weiß
denn, was bei ihr ein Glauben, was ein So-tun um verschwiegener
Zwecke willen war! Auch von denen reden wir nicht erst, die nun
plötzlich ihre bisherigen „tzammeldiebe" als gewaltige Heldenvölker
entdeckt, und die entdeckt haben, daß die bisher so geliebten Türken
ein Gesammel von nichts als Korruptionen sind. Narren gehören
nicht ins Thema. Aber das fragen wir: wird uns bei dem Gedanken
nicht bange, wie jammerschlecht unsre öffentliche Mei-
nung seit Iahrzehnten unterrichtet ward?

Wagt man's überhaupt, bei Kulturerscheinungen solcher Art von

h Dezemberheft

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