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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 1
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Avenarius, Ferdinand: Unsere Sache
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0017

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der innerlich wahrhaft Freien, die fich am ehrlichen
Empfindungsausdruck auch des Gegners freut, weil
gerade er die Vorausfetzung auch der Verftändig-
ung ist.

Und nun für heute zum Schluß. Was wir
vom Künstler an erster Stelle fordern: volle, unbe-
kümmerte Aufrichtigkeit, das fordern wir vor allem
auch vom Kritiker. Und fo fordere man's auch von
uns — dem Verlangen werden wir genügen. An
irrtümlichen Urteilen hat's bei uns nicht gefehlt;
das verfteht fich von felbft, und es wird fürder da-

ran nicht sehlen. Wir können nur versprechen, allzeit
gerade so zu reden, wie wir's meinen. Und eine
aufrichtige Kritik hat ja, Gottlob, nicht nur zu be-
zweifeln und zu tadeln, fie hat auch anzuregen, auch
zu loben. Wir dürfen heut, nach achtjähriger Arbeit
fagen, daß immerhin fchon diefe und jene Forderung
verwirklicht, diese und jene andere wenigstens allge-
meiner geworden ift, die zuerft mit unfern ftillen
Blättern ins öffentliche Leben zog. Daß uns För-
derung und Mitarbeit der Gleichgesonnenen die Kräfte
stärkten, unserm Volke zu dienen!

üv li n dscba u.

DLcbtUNg.

» ^cböne Literatur.

tfeinrich Lnrannel. Die Geschichte einer Jugend-
Von Mathieu Schwann. (Berlin, S. Fischer, Verlag,
Mk. 3.50).

Die Verfafser autobiographischer Romane haben im
Vergleich mit denen anderer Geschichten von vornherein
einen Vorteil und einen Nachteil. Der Vorteil: fie können
sich in ihren Helden, nämlich in fich selbft, ganz gewiß fo
gut hineinversetzen, wie das nur irgend möglich ift. Der
Nachteil: es wird ihnen eben deshalb besonders fchwer,
nicht befangen zu Gunften ihres Helden zu fein. Nun
ift es fo: je mehr der Vorteil, defto mehr pflegt auch der
Nachteil zur Geltung zu kommen, und umgekehrt. Bin
ich als graubärtiger Herr ruhigen Gemütes bereit, meinen
Jugenddummheiten die Schutzrnäntelchen abzunehmen, ach,
fo liegt die Jugend leider fchon fo weit hinter mir, daß
ich fie gar nicht mehr recht deutlich erkennen und abmalen
kann. Jch müßte denn mit einem so glücklichen Gedüchtnis
begnadet fein, wie z. B. der alte Fontane. Bin ich aber
ein junger Mann, dem alle Stationen feines bisherigen
Lebenslaufes noch so klar vor Augen liegen, daß ich beim
Schreiben recht aus dem Vollen schöpfen kann, so bin ich
schwerlich fchon fachlich gerecht gegen mich und meine Ver-
hältnisse. Die Gottfried Keller, die Grüne Heinriche fchreiben,
während sie noch kaum über den Grünen Heinrich hinaus
sind, find nicht eben häufig.

Mathieu Schwann ift keiner von ihnen. Obgleich er
nicht mehr im Alter der Grünheit fteht, fieht er feinen
Heinrich Emanuel wirklich ein wenig zu freuudlich, fieht
er ihn beinah ein bischen verliebt an. Scheint er doch
kaum zu bemerken, daß diefer im Grunde ja sehr tüchtige
Knabe und Jüngling zu Zeiten einige wirklich recht un-
erquickliche Seiten zeigt, daß er z. B. mehr als erfreulich
altklug und mehr als angenehm, fagen wir: großmündig ift.
Es hätte gar nichts gefchadet, wenn Schwann die Jugend-
fehler fo deutlich als folche gezeichnet hätte, wie fie nun ein-
mal urkundlich der mitgete lten Thatsachen zu fehen waren.
Kann man nicht in seinen Flegeljahren fein Äußeres fehr wohl
durch üble Schnörkel verunzieren und doch im Grunde einen
wunderguten Kern haben, der prächtig keimen wird, wenn
erft das Leben die Schale zerknackt hat? Wir follten den-
ken, das am vorliegenden Falle zu zeigen, wäre sogar eine


vortreffliche Haupt aufgabe für einen Entwicktungsroman
gewesen, und als N e b e n aufgabe hätte fie Schwann auch
jetzt berückfichtigen sollen, wo er feine Kraft, wie wir gleich
sehen werden, hauptsächlich auf andere Ziele richtet. Frei-
lich, dazu hätte überlegener Humor gehört, eben jener, der
auch unfern Keller fo gut aus den Schwierigkeiten zog.
Der Humor aber kommt zu den Verschiedenen zu sehr
verschiedener Zeit, wenn er überhaupt in ihr Leben tritt
-- zu Mathieu Schwann fcheint er noch nicht gekommen
zu sein. Sein Goldlicht fehlt uns auf diesem Bilde.

Jft es aber kein eigentliches Meifterwerk, fo ift es
doch ein recht gutes, ein fehr viel befferes Bild, als fie
oft in die Auslage kommen. Zunächft einmal: es ift ge-
halt- und geftaltenreich. Der Mensch, den wir hier bis
zu seiner geistigen Mannheit begleiten, bildet fich aus
katholifchen Kreisen heraus: da ziehen denn große und
kleine, freie und unfreie Menschen in mancherlei Geftalt
an uns vorüber, die doch faft alle fromme Katholiken find
— der alten Wahrheit zur Bestätigung, daß nicht die Kon-
fession das Herz beftimmt. Wo der Verfasfer andere Leute
als den Helden und die Seinen vor fich hat, fieht er auch
mit ganz freiem Auge; derselbe Mann, in dem fich aus
dem Gläubigen allmählich fo ziemlich ein Freigeift bildet,
schildert z. B. mit inniger Liebe und Dankbarkeit eine
Klosterschule und die Trefflichen, die fie in mildeftem und
gütigftem Geifte leiten, und er zeigt uns den „Kultur-
kampf" in einem Lichte, das den Proteftanten nicht eben
angenehm leuchtet. Er versteht überhaupt, fein Lebens-
bild zum Kulturbilde zu machen. Neben den religiöfen
Erfcheinungen ftehen da im Mittelpunkte die des Jugend-
unterrichtes und der Erziehung; Zerrgebilde aus moderner
Drill- und Schablonenpädagogik zeigen uns fich und ihren
unheilvollen Einfluß auf ihre jugendliche Opfer. Gewiß,
es wird einigen Lefern fcheinen, als fteure Schwann fein
Schiff zu entfchieden nach diesem tzafen. Aber daran
wollen wir doch 'festhalten: feinem Werke das Ziel zu
wühlen, ist ausschließlich des Verfassers Sache, und die un-
sere nur zu fragen, ob er's erreicht hat und wie die
Fahrt war.

Wird Schwann als Prosadichter auch Gutes leiften,
wo es ohne so ausgiebige Mithilfe der Erinnerung zu ge-
ftalten gilt? Unbedingt bejahen möchte ich das nicht,
noch weniger möchte ich's verneinen. Lesen wir eine ernfte
reine Dichtung, ift uns, als wandelten wir einen Weg,

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