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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 4
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Bie, Oscar: Gesunde und kranke Kunst
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0065

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nicht als höchsten Ausdruck des Dranges nähme, den
die Kunst allein darstellt.

Jch habe einmal einen Kunstgelehrten sagen
hören, Michelangelo sei ein Unglück gewesen. Dieser
dämouische Künstler störte osfenbar den Gelehrten.
Er hätte lieber eine Kunstgeschichte gehabt, die in
sachtem Fortschreiten Glied an Glied sügü bis eine
wohlgeordnete Kette entsteht, die dem Forscher die
schönsten Bequemlichkeiten bietet. Dann kann er
kombinieren und rechnen, um senem, leider sür einen
großen Teil unserer Wissenschast allzu heiligen Jdeale
nahe zu kommen: der Philologie. Dieser Michel-
angelo beunruhigte die Philologie in unangenehmer
Weise. Er wagte es, eine ungeheure Persönlichkeit
zu sein und Jahrhunderte nach s i ch zu richten. Für
den Gelehrten ist das ein Unglück, das die Kreise
der Geschichte stört. Für den Kunstsreund ist es ein
Glück, das die ganze Macht der Künstlerpersönlichkeit
ossenbart. Jener wird aus den Manieren der Epi-
gonen beweisen, daß Michelangelo ein Verführer war,
wie die politischen Rechthaber beweisen, daß Bismarck
ein schlechter Mensch war. Aber die ästhetischen Na-
turen wissen, daß in der Kunst nur der Tyrann
Jndioiduum herrscht und daß seine goldenen Tage
auf dem Unglück und den Jllusionen Hunderter von
Mückenexistenzen sich aufbauen, die im Licht ver-
brennen. Nicht Wagner, Jbsen und Tolstoi sind ein
Unglück, sondern ein Herr Nordau ist das Unglück,
der Millionen ins Ohr schreit, daß die Genies ab-
norm und die Abnormen Verbrecher seien.

Wenn ich einen Kops von Leibl sehe und mich
unter dem Eindruck dieser unerhörten malerischen
Souveränität sühle, die aus dem Tiessten die
Dinge schaut und aus der reissten und sichersten
Krast heraus sie wiedergebärt, so weiß ich: das ist
gesunde Kunst. Jch überlege mir nicht, ob das Werk
das „Lebensprinzip" verkörpert oder nicht, ich em-
pstnde, daß ich der großen Künstlerseele gegenüber-
stehe, die das Schöpfungswerk der Natur durch die
Hand des Menschen sortführt — und das genügt
mir. Wenn ich den innersten Drang, den wir
Kunst nennen, in seiner höchsten Potenz am Werke
sehe, so ist das etwas viel bedeutsameres und lebens-
volleres, als wenn ich vom Künstler irgendwelche
stosflichen Auskünste verlange. Ob der Christ aus

dem Nerobilde die Hand drohend hebt oder nicht, ob
Stuck den Krieg nur als Vernichter darstellt oder
nicht, das ist — wir sehen es nun in voller Deut-
lichkeit — für die Kunst selbst so unendlich gleichgiltig,
daß es unser Urteil, wollten wir danach die Kunst
messen, nicht nur recht kleinlich machen, sondern unsern
Standpunkt auch in einer geradezu gesährlichen Weise
verschieben würde. Mit der Lebensfähigkeit eines
Kunstwerkes hat es gar nichts zu thun, was der
Künstler in ihm bietet, sondern nur, wie dieses Werk
in die Welt tritt. Verlangen wir stossliche Rück-
sichten, so erniedrigen wir die Kunst zur Jllustratorie
unseres Lebens, während sie seine Prophetin sein soll.
Die Künstler lachen über derartige Zumutungen, weil
sie sühlen, daß ihnen hier ein Fremder hineinspricht,
der mit der wahren Seele der Kunst, dem Pulsschlage
ihres eigentlichen Lebens und der Pspchologie ihres
Betriebes gar keine Verbindung hat. Wir Theo-
retiker aber müssen vor jenen Thesen immer und
immer warnen, wenn uns die Heiligkeit der wunder-
barsten Lebenssunktion wahrhaft am Herzen liegt.

Was gesund, was krank genannt wird in den
einzelnen Zeitaltern, darüber geht die Geschichte
lächelnd hinweg. Es bleibt nur das Grotze und
das Kleine, das in seinem Schatten wächst. Das
Große ist höchster Lebensausdruck und darum höchste
Gesundheit. Die gesunden Werke sind die, welche
aus innerer Ehrlichkeit, aus drängender Gestaltungs-
krast, aus der Treue gegen sich selbst heroorgingen,
und am gesündesten sind die, welche eine große
Seele verraten und ein besreiendes Wort sprechen,
das ganzen Zeiten die Zunge lösen kann. Kran
aber sind die Werke, die nicht aus Überzeugung und
Schaffensenergie entsprießen, sondern, sei es der
Wirkung, sei es der Mode, sei es der Selbsttäuschung
zu Liebe das Kainszeichen der Unehrlichkeit auf der
Stirn tragen, in ihrer Affektiertheit sich selbst Lügen
strafen und an der Gerechtigkeit der Geschichte schließ-
lich zerschellen, weil die Disharmonie, die in ihrer
Erscheinung zu Tage trat, allmählich zersetzend wirkt
wie eine gistige Substanz. Aber das Leben hat keine
ganz gesunden und keine ganz kranken Körper, und
die Kunst mischt sie ebenso. Das ist die letzte Aus-
gabe des Kritikers, diese Diagnose schnell und sicher
zu treffen. Gskar Me.

Nunds cb a u.

Dicdtung.

* Hcböne Literatur.

Martin Lehnhardt. Lin Aainxf um Gott. Fünf
Szenen von Cäsar Flaischlen. (Berlin, F. Fontane
L Co. Mk. y 50.)

Die fünf Szenen bilden ein Drama der naturalistischen
Form, und die naturalistische Form ist diesem Stoffe an-
gemessen. Wie man sich auch zu den naturalistischen
Dogmen oerhalten möge, es unterliegt gar keinem Zweifel,
daß die naturalistische Praxis einige Werke hervorgebracht
hat, die so sein müssen, wie sie sind, und daher eine be-
 
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