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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 5
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Avenarius, Ferdinand: Kokotten im Tempel
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0081

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geht, weniger mit dem Gerede und Geschreibe non der
staatlichen Fürsorge sür wahrhaft sittliche Bühnenkunst,
von dem edeln Kunstcharakter der Hostheater, dieser
Kunsttempel u. s. w. Wir wollen ja gerne annehmen,
daß es die Herren in den Ministerien ganz brav und
treuherzig meinen, wenn sie vor Landtagen oder durch
Preßlehnsleute derartiges verkündigen. Aber was

verstehen sie denn eigentlich unter „Sittlichkeit" und
„Kunst"? So lange es möglich bleibt, daß z. B.
manches der ernstesten deutschen Dramen der Gegen-
wart verboten und „Madame Anna Judic mit ihrem
Künstlerpersonal " zugelassen wird, so lange sieht das
Handeln der hohen Amteswalter neben ihren Reden
schnurrig aus. N.

Nunds ck u u.

Dicdtung.

» Acböne Litcrntur.

Lffi B ri est. Roman von Theodor Fontane.
fBerlin 'W., F. Fontane L Co. Mk. 6.—)

Als ein blutjunges Ding hat Esfi, die Tochter des
Herrn von Briest aus Hohen-Cremmen in der Mark, den
zwanzig Jahre älteren, aber deshalb ja auch noch nicht
alten Landrat von Jnnstetten geheiratet, und nun sitzt sie
mit diesem in der Hinterpommerschen Kreisstadt Kessin.

! Er ist ein bischen sehr auf Carriere bedacht und hat viel-
leicht ein wenig zu viel Neigung, seine kleine Frau, ohne
daß sie's merkt, zu „erziehen", aber er ist ein Ehrenmann und
liebenswürdig, sein, klug, geistreich sogar, durchaus vor-
nehm. Liebt sie ihn? Je nun, viel mehr als sie ihn
liebt, kann sie vielleicht nicht liebsn. Aber obgleich „ihre
Natur nicht auf Liebe gestellt" ist, fehlt ihr bei ihm doch
etwas — ist's eben doch tiese, leidenschaftliche Licbe, macht's
der phantastische Drang nach „Erlebnissen" überhaupt, oder
langweilt sie sich nur? Sie erliegt der Verführung eines
Herrn von Krampas, eines Majors, der auch nicht mehr
zu den jüngsten gehört und dems vielleicht geht, wie ihr.
Lieben sich nun diese beiden? Eigentlich auch nicht, sie
trennen sich wenigstens nach ein paar Wochen leicht und
gänzlich, als Jnnstetten nach Berlin ins Ministerium be-
rufen wird. Jn Berlin verblaßt dann sechs Jahre lang
ungehindert das Bild der Vergangenheit. Angst, daß das
Geschehene doch noch einmal an den Tag kommen könne,
und Scham über ihr Lügenspiel quälen Effi innerlich
mehr — sie erschrickt selbst darüber —, als Scham und Reue
über ihre Schuld, das Gefühl dafür sehlt ihr, so sehr
sie sie anerkennt mit dem Verstande. Aber sie wächst
ins neue Sein hinein, sie lebt mit ihrem Gatten und mit
ihrem Kind in Harmonie, und zufrieden und sroh lebt
auch ihr Gatte. Da, nach mehr als sechs Jahren, verrät
ein Zufall dem Gatten ihre Schuld. Mit einem vertrauten

^ Freunde spricht er darüber. Unglücklich fühlt er sich, aber
von Haß und Rachedurst findet er in sich nichts, und noch
immer liebt er seine Frau. „Und wenn ich mich frage,
warum nicht? so kann ich zunächst nichts andres finden,
als die Jahre". Gibt es also bei solchen Sachen eine
„Verjährung" ? „Die Frage bleibt noch ofsen, aber jenes,
wenn Sie so wollen, uns tyrannisirende Gesellschafts-
Etwas — das fragt nicht nach Liebe und nicht nach Ver-
jährung. Zch habe keine Wahl". „Unser Ehrenkultus ist
ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen,
so lange der Götze gilt". Jnnstetten erschießt Krampas
im Duell. Dann scheiden sich die Gatten. Efsi lebt still
abseits von Jnnstetten und ihrem Kind und erlischt bald.
Jnnstetten lebt freudlos weiter. War es nötig, daß er
that, was er gethan? Wie, wenn er die Briese erst nach

fünfundzwanzig Jahren gefunden hätte — hütt' er sich als
Siebziger auch noch sür das geschlagen, was ein Viertel-
jahrhundert zurücklag? Es gibt also eine Verjährung,
— aber wann beginnt sie? Jnnstetten wird den Blick des
sterbenden Krampas nicht los. „Es lag so etwas darin,
wie »Jnnstetten, Prinzipienreiterei . . . Sie konnten es
mir ersparen und sich selber auch«".

Nur dem Kenner Fontanes wird aus diesen An-
deutungen wenigstens eine Ahnung von dem eigentlichen
Gehalte des neuen Werkes aufgehen. Wie köstliche Schil-
derungen des märkischen und pommerischen Volkes, insbe-
sondere des Adels, wir von ihm schon haben: in Ernst
und Scherz so vollendete wie dieses Mal, — dieses Mal,
wo er als Maun im achten Lebensjahrzehnte geschrieben
hat! — hat uns Fontane kaum je gegeben. Es ist schlicht-
weg wundervoll, welche Fülle von Charakteristik zwischen
diesen fünfhundert Seiten lebt. Die Darstellungsweise ist
ganz die alte ruhige, behagliche, gehaltene, überlegene, aber
doch versteht es Fontane eben mit ihr so zu sesseln, daß
i ch wenigstens bekennen muß: ich habe ganz selten nur mit
so beinahe ängstlicher Erregung vor der Peripetie einer
Dichtung gestanden, wie hier. Von Unwahrscheinlichkeiten
nur eine, die Fontane augenscheinlich empsunden hat, üenn
er sucht sie wegzumotiviren: warum vernichtet Effi die
Briefe nicht, die sie später verraten? Sonst eine bei jedem
Stockwerk größere Sicherheit im Abwägen der Haupt- und
Nebenmassen beim Bau, so daß wir bei Betrachtung des
Ganzen einfach sagen müssen: ein Meisterwerk, wie auch
-dieser Meister kein besseres geschaffen hat.

Herrlich ist die warme Milde, die alles Empfinden
und Urteilen des Dichters wie mit stiller Herbstsonne um-
leuchtet. Eine der ganz seltenen Schöpfungen haben wir
hier, in denen die Errungenschasten eines langen Lebens,
die Stärken des Greisenalters sich bezeichnenden künstleri-
schen Ausdruck schaffen, ohne daß seine Schwächen die Freude
daran trübten. Nicht jene „Güte" der Bequemlichkeit oder
der lauen Mattheit, sondern die Güte, die bei allen edeln
Naturen gerade durch das Bewußtsein kraftvoller innerer
Gesundheit gefördert wird, verbindet sich hier mit der in
Fleisch und Blut übergegangenen Erfahrungsweisheit vom
Alles Verzeihen weil Alles Verstehen.

Dürfte manchen Jüngeren diese Duldsamkeit Fontanes
gegen Jrrungen der Einzelnen da und dort zu weit gehen,
so werden andere eine entschiedene Polemik hinsichtlich der
sozialen Erscheinungen von ihm verlangen, die sein Ver-
stand doch selbst als Thorheiten erkennt und bezeichnet.
Gewiß, mit der Nachsicht gegen den Jrrenden hat sich um
so entschiedenere Strenge gegen die Jrrtümer zu verbinden,
„so lange der Götze gilt". Aber wir hielten auch dahin
zielende Vorwürfe in diesem Falle nicht für berechtigt.
Denn wenn nicht den Worten, so doch allen Entwicklungen


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