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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 7
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Erdmann, Karl: Einbildung, Heuchelei und ihr Nutzen
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0111

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Lrstes Zaimarbett I89S.



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7. DeN.


Derausgeber:

Ferdinand Nvennrius.

Vierteljcihrlich 2P2 Mcirk.

s. ZAbrg.

Linbildung, Deucbelei und ibr Outzen.

ttnngt man einen Menschen, der fern ab
von unserer europäischen Kultur ausge-
wachsen ist, mit Werken der Kunst zusam-
men, so wird er wahrscheinlich ein Urteil fällen, das
nach unserer Auffassung sehr verständnislos ist, er
wird vermutlich einen Neuruppiner Bilderbogen einer
Dürerschen Radierung vorziehen. Aber einen großen
Vorzug wird sein Urteil haben: es wird ursprüng-
lich sein; es wird ehrlich das zum Ausdruck bringen,
was im Jnnern des fraglichen Menschen vorgeht.

Wie anders der gebildete Kulturmensch! Ein
Wall von Theorien, von fremden Meinungen, Vor-
urteilen von nngelernten, anempsundenen, halb ge-
glaubten, halb gedankenlos ilachgesprochenen üsthe-
tischen Prinzipien und herkömmlichen Werturteilen
schiebt sich zwischen sein natürliches Empsinden und
seine üsthetische Beurteilung. Diesetben verwickelten
Kulturbedingungen, die aus dem Menschen ein so
nervöses Gebilde machen, die in ihm so überfeinerte
und seltene Gesühle erzeugen, daß er zur künstlerischen
Produktion und zum künstlerischen Genießen erst be-
sähigt wird, dieselben Kulturbedingungen trüben auch
die Naivität des künstlerischen Empsindens und ver-
hindern die Aufrichtigkeit des ästhetischen Bekennt-
nisses. Schule und häusliche Erziehung, gesellschast-
liches Leben, Zeitschristen und Bücher belehren, regen
an, wecken Teilnahme und Wertgesühle, aber sie irri-
tieren gleichzeitig, sie machen unsicher und unselb-
ständig. Man empsindet und urteilt unter der Macht

der Suggestion und der seinen Sitte. Man läßt sich
einreden, was schön und hüßlich, was bewun-
derungswert und was zu tadeln sei, oder man wagt
nicht das eigene Empfinden, wenn es von der sür
maßgebend geltenden Meinung abweicht, unbefangen
zu äußern, aus Furcht, den Namen eines gebildeten
oder bildungssähigen Menschen zu verlieren. Jn
diesem Sinne nenne ich die landläusige üsthetische
Wertschätzung (d. h. das Jnteresse an der Kunst ganz
im allgemeinen und die Beurteilung der Persönlich-
keiten und ihrer Werke im besonderen) unsrei.
Und ich unterscheide zwei Tchpen, die freilich öfter in
einander übergehen: die eingebildete Wertschätzung
und die geheuchelte.

Schon in srüher Jugend werden die Gehirne
planmäßig bearbeitet. Schon irr der Schule wird
Respekt und Bewunderung vor den endgiltig aner-
kannten Größen der Kunst- und Literaturgeschichte ge-
züchtet: Goethes Jphigenie ist ein herrliches Werk,
Raphael ist der „größte" Maler. Das fertige Wert-
urteil ist srüher da, als die Kenntnis der Werke,
srüher als die Besühigung zum Verständnis und
zum Genuß. Der ost schreiende Gegensatz zwischen
der natürlichen subjektiven Reaktion: „ein Werk ge-
sällt mir", „ich sinde es schön" und der pslichtmäßigen
Bewunderung: „es gefällt schlechthin", „es ist schön"
wird geflissentlich überkleistert. Wie Thatsachen
werden sertige Werturteile übermittelt und ohne Prü-
fung geglaubt. Man lernt auswendig, daß Tasso


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