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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 8
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Lier, Leonhard: Kritisches über Tageskritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0127

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Lwettes Zanuarbekt I8S6.

s. Dekt.

Lrscheint

Derausgeber:

FerdLnand Nvenarms.

Bezugspreis:
Biertcljährlich 2>/s Mark.

9. Zakrg.

Krttiscbes über klageskritik

s ist eine mehr als alltägliche Erscheinung,
daß sich die Kritiken der Presse nber Kunst-
leistungen, auf rvelchem Gebiete sie anch auf-
treten mögen, vollständig midersprechen. Diese Wider-
sprüche, die bei dem Laien nur zu leicht derr Glauben
an die Parteilichkeit der einen oder der andern Mei-
nung oder gar an die Wertlosigkeit aller erwecken
nnd zu rechtsertigen scheinen, oerdanken ihren Ursprung
den oerschiedensten Ursachen. Abgesehen von der völ-
ligen Unberufenheit dessen, der als Kritiker austritt,
einer leider nicht seltenen Erscheinung, entstammen
diese Widersprüche — um auch von persönlichen Bor-
eingenommenheiten zu schweigen — der Verschieden-
heit des Geschmackes, über den nun einmal nicht
zu disputieren ist, der Verschiedenheit der künstlerischen
Grundanschauungen und im besondern noch der Ver-
schiedenheit der Ausfassungen von dem Zwecke der
Kritik. Aus allen diesen Ursachell heraus entsteht in
der Kritik nach der Richtung, wie nach dem Grad
der Milde oder Schärse ein so vielgestaltiger Wirrwarr,
daß, wer in ihm einen Weg zu sinden sucht, ohne
selbst persönlich das Kritikeramt auszuüben, geradezu
verraten und verkaust sein würde. Preist der eine
dies oder jenes Bild an als ein Zeugnis hohen
Könnens und vornehmer Gesinnung, so verurteilt es der
aridere als Machwerk der Stümperei und niedriger
Aufsassnng in Grund und Boden, und beide geben
ihrer wohlüberlegten, von allen Vorurteilen nach
Menschenvermögen losgeschälten Meinung ehrlichen

Ausdruck. Es kommt nlso daraus hinaus, daß die
Kritik nur sür den von Wert ist, der selbst das Zeug
in sich hat, das kritisch Ausgesprochcne zu kritisieren
und seiner Berechtigung nachzugehen, und daß schließ-
lich die Kritik nur die Bedeutung hat, eine andere
zur Bestätigung oder zur Verneinung heranszusordern.
Jn diesem Sinne wäre denn geradezu das, was die
Kritik erst in ihrem Werte zu schüdigen schien, das
Hin und Her der Widersprüche, sür deir Kunstsreund
von vorteilhaster Wirkung, indem es ihn veranlaßt,
nach allen Seiten hin das kritisierte Kunstwerk zu
prüsen und sich selbst ein Urteil zu bilden, wie etwa
ein Politiker durch die Kenntnisnahme von sich wider-
sprechenden Ansichten sich ein Urteil zu bilden be-
müht ist.

Jn der That erscheint uns nichts lächerlicher,
als die Forderung einer einmütigen Kritik. Jm
Gegenteil dünkt uns: je widerspruchsvoller, desto
besser, je mehr Kamps, desto mehr Leben. Die
Harmonien der Kritik wirken einschläsernd, ihre Disso-
nanzen regen an und sördern das Kunstleben bei
Schaffenden und Empfangenden. Es kann nimmer
mehr Ausgabe der Kritik sein, sie wollte sich denn
eine Gottschedische Tyrannei anmaßen, das Urteil zu
diktieren, wie ein Gesetz, jenseits dessen es nur Un-
verstand und Vergehung giebt, so sehr auch den
einzelnen Kriktiker das begreisliche Verlangen beseelen
mag, seiner Meinung Anhänger zu gewinnen. Eine
objektive Kritik giebt es nicht, es giebt keine allein
 
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