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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 9
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Rundschau
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0155

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Eine Pflanze trauert, wenn sie die Spitze verliert oder
sonstwie verkümmert.

Eine heitere Symbolik, wenn alles, was in der Welt
zufallig abschüssig ist, wenn jeder Rain, jeder Mantel,
jede Schleppe Trauer bedeuten müßte! Bedeuten vielleicht
die Röcke unserer Damen, die Schleppen ihrer Ballkleider,
auch Trauer, weil sie abwärts fallen? Wie möchte man
denn, daß sie ständen, damit sie Munterkeit bedeuteten?
Und unsere nordischen Hausdächer, das sind wahrschein-
lich Trauerdücher? Überdies weinen sie ja schwere
Tropfen, wenn es regnet. Und der Bart eines Pompiers,
das Geniehaar ^eines Geigers, das sind vermutlich
Thrünenmähnen, weil sie nicht in die Höhe stehen? Spaß

beiseite, ich sehe nicht ein, wieso das ungereimter wäre,
als „Trauerweide" und „Thränenkiefer".

Jch möchte daher die Herren Gärtner bescheidentlich
anregen, das Jhrige beizutragen, um der albernen Gold-
schnittsymbolik, die sich aus dem Kommissionsverlag in
die Botanik hinübergeschlichen hat, zu steuern. Mit klaren
Worten: Wo es jetzt in den Katalogen neben der latei-
nischen wissenschaftlichen Bezeichnung und neben dem
deutschen Namen etwa noch lautet: „oder Trauer-", oder
„Thränen-", da möchten sie, slehe ich, doch um des
össentlichen Geschmackes willen den sentimentalen Schimpf-
namen einfach weglassen, damit er, so Gott will, endlich
die lüngst verdiente Vergessenheit finde.

Lprecbsuul.

I. F. Leempoels.

Jch möchte die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf
das Schaffen eines Künstlers lenken, der meiner Ueber-
zeugung nach zu den größten der Gegenwart gezählt
werden muß. Und um so mehr drängt es mich, auf ihn
hinzuweisen, als ich mit dieser meiner Ueberzeugung noch
ziemlich einsanr dazustehen scheine, — hat sich doch meines
Wissens bisher noch niemand bemüht, ein Bild von
Leempoels Wesen in deutlicheren Umrissen zu zeichnen.
Man sühlt wohl unklar das Eigenartige seiner Erschei-
nung; „Mystiker" nennt man ihn bald, bald lobt man seine
Darstellungsweise als „charakteristisch", man tastet an
seinem Wesen herum, man sieht Stücke von ihm, aber man
sieht nicht den ganzen Mann, der mir hoch über den Ge-
nossen in ruhiger Meisterschaft aufzuragen scheint.

Auch der Referent des Kunstwarts hat sich, glaub
ich, in einem unsicheren Verhältnis zu Leempoels Kunst
befunden, als er seine Bilder in der diesjährigen Sezes-
sionistenausstellung besprach. Da ist z. B. die „Freund-
schaft": zwei Männer, die Hand in Hand mit ruhigem,
sesten Gesichtsausdruck dasitzen. Herr von Berlepsch nennt
dieses Bild ein Doppelportrait. Hiermit aber nimmt er
in meinen Augen schon von vornherein dem Werk gegen-
über einen unrichtigen Standpunkt ein, insolge wovon er
ganz erklärlicherweise bei der Beurteilung des Gemüldes
kein andres Wort als „charakteristisch" dafür finden kann.
Denn Leempoels hat, so behaupte ich, mit dieser Arbeit
gar kein Portrait, gar kein Abbild wirklicher Männer
geben wollen, sondern eine Dichtung. Es will mich fast
sonderbar bedünken, wie es so vielen entgehen konnte,
daß diese beiden durchaus keine wirklichen, seienden
Menschen sind, sondern Menschenerscheinungen, aus denen
alle kleinen Zufälligkeiten getilgt sind, und in denen dann
die breit dahinfließende Flut des Lebens zu einem starken
Strome zusammengedrängt ist. Natürlich nicht in willkür-
licher Weise, sondern unter dem Zwange dichterischer Ein-
gebung. Für die große Kunst des Malers aber weiß ich
mir gar keinen sprechenderen Beweis, als daß gerade die
meisten Leute das übersahen, daß sie, ob sie gleich selber
ein Seltsames aus dem Gemälde heraussühlten, dennoch
an die gemeine Wirklichkeit dieser Erscheinungen glauben
konnten. Es beweist, daß der Maler das wirkliche Leben
bei seiner Dichtung eben nur um die ürgerlichen, kleinen
Zufälligkeiten betrogen hat, und daß er, weit davon ent-
sernt ein hohles Jdeal darzustellen, vielmehr den Kern
einer lebensvollen Jndividualität aufs charakteristischste
wiedergiebt, ja hier in diesein Falle so charakteristisch, daß

man vor diesem Bilde stehend nicht etwa im allgemeinen
das Gefühl hat: das ist jetzt so oder so einer, sondern
daß einem der Mensch ganz herauszutreten scheint aus
dem Rahmen, daß man ihn auf den ersten Blick nicht nur
bis in den Grund seiner Seele, sondern auch bis in seine
kleinsten Eigentümlichkeiten hinein erkannt zu haben meint.
Und wie ist diese Charakteristik technisch durchgeführt bis
ins einzelne! Was hat die nicht ganz vollkommene Luft-
perspektive im Bild dem Umstande gegenüber zu bedeuten,
daß die Meisterhand, die den Ausdruck des Gesichtes
fixierte, mit derselben Sicherheit die Eigentümlichkeit dieses
besonderen Menschen auch in allen seinen übrigen Gliedern,
selbst den kleinsten, auss deutlichste festzuhalten vermochte!
Wer das kann, wer so vollkommen und sicher wiederzu-
geben weiß bis ins kleinste, was seine Seele erschaut,
der ist ein Meister. Wollte Gott, dies stolze Wort wäre
nicht so mißbraucht, daß man das richtige Gefühl dafür
noch'haben könnte, was es bedeutet, ein Meister seiner
Kunst zu heißen!

Das zweite Bild, das Leempoels hier ausgestellt
hatte, war „das Schicksal und die Menschheit." Hier muß
ich in P3.rentbe8i bemerken, daß ich auf dem Gemälde
keinen „Messias"kopf finden kann, sondern daß das Haupt,
das in den regenbogensarbig umstrahlten Wolken über
den emporgestreckten Händen der Menschheit schwebt, mir
vielmehr ein ganz wunderbares Etwas zu enthalten
scheint, das mit einem Erlöser nichts zu thun hat. Jch
habe noch nie eine Darstellung des Schicksals gesehen, die
mir so das Erbarmungslose zugleich mit dem Unbeteilig-
ten, Leidenschastslosen einer alles beugenden Macht vor
Augen geführt hätte. Eine ungeheure Kälte weht von
diesem grauen, tiefgerunzelten, leidenschaftslosen Gesicht,
diesem ruhigen, auswärts gerichteten Auge, das über alles
hinwegdringend nur seine oorgezeichnete Spur zu ver-
solgen scheint — eine Kälte, die einem das Herz erstarren
machen kann, wenn man die Unzahl flehender, zum Rätsel-
vollen emporgestreckter Hände erblickt.

Das dritte Bild, das ich besprechen möchte, heißt
„Amen": ein Frauenkopf mit todesblassen Lippen und
brechenden Augen. Es liegt eine Reinheit, eine geistige
Hoheit in diesem edeln Antlitz, aber zugleich klagt ein
Schmerz daraus, der kein Teilchen dieses armen Menschen-
angesichtes von den Spuren seiner Martern verschont ge-
lassen hat, daß man davorstehend verzweifeln müßte an
einer Welt, die mit solchem Leide das Höchste und
Zarteste zerquült, wenn nicht eben diese müden, brechen-
den Augen im Begriffe wären sich im Tode zu lösen, zu
 
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