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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 20
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Bartels, Adolf: Literarische Erziehung
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0322

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—'Ä

bemerkt hat, nicht im Gemeinen, aber er taucht oft
genug in ihm unter, er thut das jedoch mit der gei-
stigen Freiheit, die noch einen aesthetischen Genuß
zuläßt, und so sehe ich nicht ein, weshalb wir Heine
einfach „perhorreszieren" sollen. Jn der Kinderstube
können wir ja doch einmal nicht bleiben, auch ohne
Heine kommt das, was ich die spezifisch heinesche
Stimmung nennen möchte, eines Tages über uns,
jeder, oder, doch sast jeder hat in seiner Entwick-
lungszeit eine Periode, oder wenigstens Stunden, wo
ihm seine alten Götter in einen Sumps zu versinken
scheinen und er das Leben nur durch das Element
der Jronie oder gar des Zynismus auffassen kann.
Das dauert bei einigermaßen gesunden Naturen in
der Regel nicht sehr lange, und so wird sich auch
die Heinebegeisterung bei diesen schwerlich aus lange
Zeit festsetzen, um so weniger, je tiefer sie in die
Welt der großen Klassiker eingedrungen sind. Heine
ist von unseren modernen Dichtern der erste der Zeit
nach, und so mag auch die Einsührung in die mo-
derne Literatur mit ihm beginnen. Kann man einen
jungen Mann nach dem zwanzigsten Lebensjahre noch
beeinslussen, so mag man dasür sorgen, daß dem
ungezogenen Liebling der Grazien bald ernstere Geister
nachfolgen.

Welche Geister das sein könnten, ist sür den,
der unsre moderne Literatur kennt, klar. Zunächst
sind es die drei großen Dramatiker, die partiellen
Genies unsrer Literatur: Heinrich von Kleist, Hebbel
und Otto Ludwig. Wer z. B. zu Hebbel wirklich
ein Verhältnis gewinnt, dem wird Heinrich Heine
gewiß nicht mehr schaden. Alle drei Dichter führen
aus der Welt der Klassik hinaus, und wenn sie als
Dramatiker Shakespere mehr oder minder nahe stehen,
sie sind doch ganz modern und geben jeder sein selb-
ständiges Bild der Welt. Es ist nicht leicht, sich
dessen zu bemächtigen, alle drei standen in ihrer Zeit
allein und haben nichts gethan, dem großen Publi-
kum bequeme Genüsse zu verschaffen. Aber wer sich
die rechte Mühe gibt, kommt ihnen schon näher und

wird dann unzweiselhast die tiessten Eindrücke em-
psangen, wird das richtige Verhältnis zu der hinter
uns liegenden Welt der Klassik gewinnen und zu-
gleich die Maßstäbe für die Beurteilung der Literatur
der Gegenwart. Der Gesahr, sich später durch die
Produkte glünzender Scheintalente einsangen zu lassen,
wird er ein für allemal enthoben sein.

Es ist aber nicht zu leugnen, daß Kleist, Hebbel
und Ludwig und das dunkle Bild der Welt, das sie
im nllgemeinen geben, eines sreundlicheren Gegen-
satzes bedürfen, und da stellen sich Grillparzer, Mörike
und Gottfried Keller als die rechten Leute dar. Grill-
parzer ist die Brücke zur Welt der Klassik, zu Goethe
zurück, dabei aber doch ein moderner Dichter, und
wenn auch keine große Persönlichkeit, doch eine starke
„Natur". Mörike ist der erste deutsche Lyriker mit
Goethe, und Keller der erste deutsche Novellist. Beide
sind Persönlichkeiten und ihre Kunst ist von der reinsten
und leuchtendsten Schönheit, enthält auch vielleicht
das beste des deutschen Humors — ja, das sind nur
arme Worte, ich muß mich hier eben auf die An-
schauung, die Gott sei Dank in allen lebt, die in der
Welt der deutschen Dichtung wahrhaft heimisch sind,
beziehen. Die werden auch begreifen, weshalb ich
hier Keller genannt habe, und nicht Storm, so hoch
ich ihn schätze, oder einen andern. Kleist, Grillparzer,
Mörike, Hebbel, Ludwig, Keller — die Werke dieser
sechs modernen Dichter studiere, deutscher Jüngling
(der Jungfrau schadet das auch nichts), und wenn sie
dir gute Freunde geworden sind, dann will ich dir
die Lektüre der Werke von sünszig berühmten Namen
und von neun Zehnteln aller neuesten Produkte, die
Aufsehen erregen, erlassen. Jch weiß dann, daß
deine literarische Erziehung vollendet ist, daß du nie
in die Versuchung kommen wirst, weder deinen Sha-
kespere, Goethe, Schiller im Bücherschrank verstäuben
zu laffen, noch das wahrhast lebensvolle, das die
Literatur der Gegenwart hervorbringt, zu ignorieren.
Mehr kann aber der getreueste Kunstwart von keinem
Deutschen verlangen. Ndolk Lartels.

N u n d

DLcdtung.

* ^cböne Literatur.

Rezexte. Satiren von Gustav Schwarzkops.
(Dresden, Carl Reißner.)

Es steckt ein frisches satirisches Talent in diesem Buche,
das es zwar in der Regel nicht zu Gestaltungen bringt,
aber den Schwächen unseres modernen Lebens mit Witz,
Schürfe und Laune beikommt. Jn der ersten Satire,

s ck a u.

die dem Buche den Titel gegeben, werden Rezepte zur
Herstellung von Rache-Opern, Volksstücken, Posfen, mo-
dernen Stimmungsbildern und modernen Allegorien mit-
geteilt, die zweite, von origineller Erfindung, persifliert
das moderne Herrschertum, wie es aus den Hofnachrichten
hervortritt, andere machen sich über die Mufterhausfrau
der Gegenwart, die Jubiläumssucht, die Salveberühmt-
heiten, die Reconnaissance-Visiten, die Brautbesuche u. s. w.
lustig, niemals in verletzender, darum auch nicht minder


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