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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft 1914)
DOI Artikel:
Tellow, Heinrich: Der Staat als unser Kunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0122

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E

Der StaaL als unser Kunstwerk

hat Zeiten und SLaaten gegeben, in denen jeder Bürger die
Satzungen seines Staates ebenso seiner Veurteilung unterwarf, wie
etwa die Vorschriften irgendeines Vereins, dem er angehörte. Solche
Menschen dachten etwa: diese Ordnung besteht, weil wir sie gutheißen,
würde sie uns hästlich und böse dünken, wer könnte uns abhalten, sie
zu ändern? Ein Denken, das keineswegs aufrührerisch und erfüllt sein
muß von tzaß gegen Vecht, Sitte und Religion, es waren im Gegenteil
oft recht fromme Menschen, die sich für alles verantwortlich fühlten, was
im Staate vorgeht. Anter den Protestanten waren es Calvin und
manche seiner Anhänger, die alles staatliche Geschehen ihren religiös-
sittlichen Anschauungen unterwerfen wollten. Auch in Lngland und Amerika
begegnen wir immer wieder solchem Verhalten, fußen doch dort eine Reihe
Versuche, die Staatsordnung umzugestalten, auf den Erwägungen: was
im Staate geschieht, dafür ist nicht nur die Regierung, sondern jeder einzelne
Bürger sich oder seinem Gotte verantwortlich. Eine Trennung zwischen
Sittlichkeit des Einzelnen und Sittlichkeit des staatlichen Lebens ist solchen
Menschen fremd. Andere Anschauungen vertraten viele LutheranerV Sie
setzten sich vor allem für die Achtung vor der gottgesetzten Obrigkeit ein,
die über den Antertanen stehe und sie zu leiten habe. Der einzelne
Bürger hat ihnen nur im engen Kreise seines Berufes seine Pflicht zu
erfüllen; mehr wird nicht von ihm verlangt, eine Einmischung in staatliche
Angelegenheiten wird zuweilen sogar als eine Art Vorwitz angesehn. Der-
artige Gedankengänge sind wohl geeignet, die Sittlichkeit des Einzelnen
von der öffentlichen Sittlichkeit abzutrennen. Sie unterdrücken in ihm
die Anschauung oder lassen sie gar nicht aufkommen: der Bürger habe
darauf zu sehen, daß die Obrigkeit ihre Sache gut mache. Es ist geradezu
behauptet worden: die Teilnahmlosigkeit weiter Kreise in Deutschland gegen-
über verwerflichen Vorkommnissen im öffentlichen Leben sowie gegenüber
schlechten Einrichtungen ginge auf diese Sonderung zurück, während die
allgemeine politische Bildung und Schulung der angelsächsischen Länder
vieles dem Calvinismus verdanke. Vielleicht hat umgekehrt das Luther-
tum diese Ausgestaltung erfahren, weil es sich Völkern zuwandte, die
mehr Sinn für die obrigkeitliche Leitung hatten^ oder hat eben seines
Charakters wegen bei solchen Völkern Anklang gefunden. Wie dem auch
sein mag, jedenfalls kann uns eine solche Betrachtung veranlassen, nach-
zuforschen, ob heute die eine oder die andere Anschauung mehr Aussicht
hat durchzudringen, ob in Iukunft der Einzelne sich stärker als heute für

Sehr anziehende Ausführungen über diesen Gegensatz bei Ernst
Troeltsch, „Protestantisches Christentum und Kirche in der Reuzeit" in: „Die
Kultur der Gegenwart", T. I, Abt. IV, t- „Geschichte der christlichen Religion,
2. Aufl. Daß der Sinn der Deutschen, insbesondere des Rordens, für Disziplin
und Anterordnung unter eine herrschende Gewalt nicht etwa auf monarchischer
Grundlage beruhe, sondern tiefer im Volkstum wurzle, behauptet zum Beispiel
Michels. Er schildert in seiner „Soziologie des Parteiwesens in der modernen
Demokratie" in eingehender Weise die Gliederung der deutschen Sozialdemokratie,
die sich vor den sozialistischen Parteien anderer Länder dnrch Straffheit des
Aufbaus, Beständigkeit und Machtentfaltung der leitenden Kreise auszeichne.
 
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