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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

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Heft 17 (1. Juniheft 1914)
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Schmidt, Leopold: Film und Musik
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0370

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mehr mit einem schlechten Kapellmeister zu begnügen, man kauft einen
Meisterfilm und genießt die Freuden des verwöhntesten Großstadtpublikums.
Die Werke sind festgelegt in Tempo und Auffassung.

Wiederum: welch grotesker Irrtum waltet hier! Die Vollendetheit der
technischen Wiedergabe und die Tatsache, daß Orchester nach solchen Film«
dirigenten spielen wollen und können, immer vorausgesetzt — beruht denn
die Kunstleistung des Dirigenten in seinen Bewegungen und seinem Minen«
spiel? Die „Erfinder" haben gar nicht daran gedacht, daß die tzaupt-
tätigkeit des Kapellmeisters sich in der Probe vollzieht, und daß es un--
sinnig ist, ein Orchester vor eine fertige Dirigentenleistung zu setzen. Kein
Dirigent der Welt taktiert auch nur zweimal ganz gleich; er kann es nicht,
weil er seinerseits von den Musikern abhängt, die unter ihm spielen, weil
seine Leistung ein Resultat der Wechselwirkung ist zwischen ihm und den
Ausführenden. Der lebendige Dirigent schlägt nicht nur den Takt, er
hört auch, was um ihn herum vorgeht, er beugt Lntgleisungen vor und
gleicht Schwankungen aus. Der Filmdirigent aber hört nicht. Seine
Musiker, die doch Menschen und keine Maschinen sind, mögen sich zurecht-
finden oder nicht, sie mögen sich irren, „patzen" — er taktiert ruhig weiter,
wie er es vor einem oder vor zwanzig Iahren mit ganz anderen Spielern,
vor ganz andern tzörern unter ganz anderen Verhältnissen einmal getan
hat. Die Wechselwirkung fehlt, die Kunst ist zum Teufel. Die Sensation
wird zunächst darüber hinweghelfen und der mangelnde Einblick in das
Wesen des Dirigententums — aber soll man es für möglich halten, daß
ein derartiger Rnfug sich auf die Dauer durchsetzen könnte?

Vorläufig ist dieFreude an denWundern der Kinowelt noch groß. Aber
die Aufklärung und die Ermüdung werden nicht ausbleiben. Deshalb
sind auch Befürchtungen hinfällig, daß die wirkliche Kunst von ihrem After-
bilde an die Wand gedrückt werden könnte. Wenn die Lichtspiele über-
füllt sind, die Theater aber leer stehen, so hat das ganz andere Gründe.
Dinge, die so wenig miteinander zu tun haben wie Kunst und Kino, wie
Film und Musik, die können sich nicht ergänzen, geschweige denn ersetzen.

Leopold Schmidt

Sprechsaal

Wandervogel und Iudentum

/^^m „Berliner TageblaLL" und ihm nahestehenden Zeitungen ist die Frank-
^L furter Entschließung des Wandervogels zur Iudenfrage mit ungeheurer
tzeftigkeit angegriffen worden. Mit tzohn und Spott, mit Wut und
Entrüstung ist man über die Bundesleitung hergefallen und hat sie
eines wüsten Antisemitismus beschuldigt, ohne zu bedenken, daß dieselbe
Bundesleitung noch vor wenigen Monaten in einer besonderen Mit-
teilung an das „Berliner Tageblatt" selbst von den antisemitischen Partei-
Hetzern, die in der Führerzeitung die Iuden verhöhnt hatten, abgerückt war,
daß dieselbe Bundesleitung folgerichtig in der Frankfurter Erklärung kund«
gab, sie werde in den Reihen des Wandervogels durchaus keine Beschimp-
fungen der Iuden dulden. Man ist darüber einfach hinweggegangen,
hat die Erklärung widerspruchsvoll und verlogen genannt und hat ihr einen
Sinn untergelegt, der besser geeignet war, die Öffentlichkeit aufzureizen.
 
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