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64

Nachzeichnungen

Die Interpretation der Skulpturen
in den Nachzeichnungen

Welche Funktion auch immer bei den einzelnen
Nachzeichnungen überwiegt, sie alle sind no-
lens volens und mit mehr oder weniger Nach-
druck eine bestimmte Interpretation des Vor-
bildes. Keine Nachzeichnung kann, schon
aufgrund der Übertragung von einem Medium
ins andere, vollständig und damit neutral sein.
Jede Nachzeichnung stellt eine Auswahl von
Aspekten ihres Vorbildes dar. Diese Auswahl
ist nicht willkürlich - sie hängt von der Sicht-
weise des Zeichners und den Bedingungen und
Möglichkeiten des Mediums ab. Die wenigen
bereits besprochenen Beispiele zeigen, daß Nach-
zeichnungen in dieser Hinsicht immer eine bild-
liche Sinnstiftung leisten, die im Sinne der
anfangs getroffenen Begriffsbestimmung Inter-
pretation ist.1-*1

Es stellt sich die Frage nach den Bedingun-
gen der Möglichkeit, nach dem Wie und Wo-
durch einer solchen Interpretation. Wie jede
Zeichnung konstituieren sich auch Nachzeich-
nungen anhand verschiedener Materialien
(Papier, Kreide, Feder, Pinsel, Tinte etc.) durch
einfache und äußerst vielseitige Gestaltungs-
elemente: Punkt, Fleck, Linie und Fläche. Das
Verhältnis von Nachzeichnung und Statuen
und damit auch die Interpretation bestimmt
sich ferner aus der Wahl eines Standortes und
eines Ausschnittes, aus den teils geringfügigen
Deformationen des Vorbildes und Relationie-
rungen einzelner Teile der gezeichneten Ele-
mente. In jeder Nachzeichnung verändert sich

durch das jeweils individuelle Zusammenspiel
die Wirkung der einzelnen Gestaltungsmittel.
Im Gegensatz zur geschriebenen Sprache, bei
der eine Analyse der Ausdruckformen möglich
und sinnvoll ist, läßt sich eine typologische
>Grammatik< der Nachzeichnungen nicht auf-
stellen: Die Elemente der Nachzeichnung sind
nicht wie Worte semantisch autark, es gibt
keine der Sprache vergleichbare Kodifizierung.
Die >Bedeutung< einzelner Elemente ergibt sich
erst aus dem Kontext des Blattes. Anders als
bei der Analyse der Beschreibungen liegt daher
bei Nachzeichnungen ein Vorgehen in Einzel-
analysen nahe. Im folgenden werden sieben
Blätter nach der Medicimadonna und dem
Giorno vorgestellt. Ihre Beschreibung soll auf
die unterschiedlichen Formen, mit denen sie
ihre Vorbilder interpretieren, hinweisen. Ge-
genstand dieser Beschreibungen ist also nicht
die Zeichnung selbst, sondern ihr Verhältnis zu
der jeweiligen Statue. Wenn ich hier selbst
unausweichlich als Autor von Beschreibungen
auftrete, darf das, was im vorangehenden Teil
dieser Arbeit über die Kunstbeschreibung
gesagt wurde, nicht ausgeklammert werden,
insbesondere nicht, daß jede Beschreibung
selbst eine Interpretation ihres Gegenstandes
ist.1^

Wenden wir uns zuerst zwei Nachzeichnun-
gen der Medicimadonna aus dem letzten Drittel
des 16. Jahrhunderts zu (Taf. 54 f., NZ 141
und 54). Sie stammen von Lodovico Cigoli und

w So auch Michael Ayrton [in: Maison i960, 13]: »[...]
stets wird der Kopist einen bestimmten Aspekt des
Originals besonders hervorheben [...]. Dies gilt natür-
lich nicht nur für Einzelheiten der Darstellung, son-
dern ebenso für die gesamte Bildkomposition, für die
großen Rhythmen, die darin schwingen, für die Bezie-
hungen zwischen Formen und Farben. Immer wieder
wird der Kopist ganz intuitiv das besonders betonen,
was ihn am tiefsten berührt [...]«. Aufschlußreich ist
ein Aufsatz des Malers Francis Hoyland (geb. 1930):
The Challenge ofthe Fast [in: London 1987, 66 - 71].

Auf die Interpretationsleistung der Nachzeichnung als
Beispiel kunstgeschichtlicher Hermeneutik hat Oskar
Bätschmann [1984, S 10] hingewiesen.
142 An dieser Stelle ist eine kurze Erläuterung des metho-
dischen Vorgangs angebracht. Die meisten Zeichnun-
gen konnte ich im Original untersuchen. Bei dem Ver-
gleich mit den Statuen, in der Neuen Sakristei,
verwendete ich fotografische Reproduktionen der
Zeichnungen. Anschließend habe ich für jede Zeich-
nung eine Fotografie von der oder den Skulpturen auf-
genommen, die Ansicht und Ausschnitt der Zeichnung
wiedergeben soll. Diese Fotografien sind grundsätzlich
 
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