Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
14

DIE BALUSTRADE DER ATHENA NIKE.

IV.

Ueber den ursprünglichen Zustand der Balustrade.

Räumliche Ausdehnung.

Als Ross und seine Freunde sich von dem ursprüng-
lichen Vorhandensein der Balustrade überzeugten, wurden sie
geleitet durch die Uebereinstimmung der Breite des unteren
Randes der am besten erhaltenen Reliefplatten mit der Breite
der Lehre, welche sie auf den marmornen Bekrönungsplatten
des Unterbaues am Nordrand und einspringend neben der
kleinen Treppe bemerkten. Sie schlössen mit Recht daraus,
dass die Balustrade nicht nur am Nordrand bis zu der kleinen
Treppe lief, sondern da im Winkel umbog; sie nahmen an,
dass dieser letzte einspringende Teil der Balustrade sich bis
an die Nordostecke des Tempels fortgesetzt habe. »Da die
Platten — so heisst es weiter bei Ross — auf diese Weise
fast ganz frei standen und nur nach unten durch metallne
Zapfen und unter sich durch Klammern verbunden waren,
so verband der Künstler sie, um ihnen mehr Festigkeit zu
geben, nach oben noch durch ein metallenes Gitter, wie sich
aus acht runden, in die obere Fläche jeder Platte einge-
bohrten fingerstarken Löchern schliessen lässt.«

Der von Hansen gezeichnete Grundriss Tafel I gibt
weder die erhaltene Lehre, noch ergänzungsweise den Lauf
der Balustrade an. Die von Schaubert gezeichneten Aufrisse
enthalten in keinem Falle eine Andeutung der Balustrade auf
der Westseite, während ein absichtliches Weglassen (um die
dahinter liegenden Teile zu zeigen) in der doch vermutlich
nach schriftlichen Angaben von Schaubert und Hansen zu-
sammengestellten kurzen Erläuterung der Tafeln zu Anfang
des Werkes nur einmal bei der Nordseite, wo es schon an und
für sich klar ist, angemerkt wird. Auch kann bei der Art
der Entstehung dieses Ross, Schaubert und Hansen gemein-
samen Werkes 2,t) eine Verschiedenheit des Textes und der
Tafeln in der Auffassung eines so entscheidenden Punktes
nur schwer angenommen werden. Aber freilich, nicht nur der
bei jenen ersten Arbeiten auf der Akropolis beteiligte Bild-
hauer Heller führt auf einer der von ihm gezeichneten Tafeln
die Balustrade auf die Westseite herüber, sondern auch der
französische Architekt Albert Lenoir, der im Frühjahr 1836
in Athen war und die deutschen Arbeiten am Tempel der
Athena Nike im besten Laufe kennen lernte, dehnt die Ba-
lustrade auf die Westseite und sogar auf die Südseite aus.

Seine Worte in den Nouvelles Annales de l'Institut
archeologique I 2, (1837) S. 307 lauten: -»Le voisinage de
la muraille escarpSe du bastion qui porte le temple nScessita dans
Vorigine un appui ou garde-fou qui protegeät contre les chutes qu'au-
raient pu faire les sacrificateurs ou les assistants, vers l'escalier des
PropyUes ou meme en dehors de la citadelle. Les architectes grecs
pourvurent ä ce besoin; sur les marbres dont la partie saillante,
profiUe en moulure, couronne les murs de la terrasse, on voit l'em-
preinte de cet appui qui etait compose de tablettes dressees debout
dans toute la largeur du bastion, et sur le retour occidentale. Un
fragment de bas-relief trouvS dans les ruines de la batterie turque,
et representant deux Victoires ailees revetues d'etoffes Uglres et
d'une belle execution, remplient parfaitement par sa hauteur et son
epaisseur les conditions necessaires ä cet appui. Le Heu oii fut
trouve ce bas-relief serait encore une raison pour admettre qu'il
etait employi, comme le pensent les architectes d'Athhnes, ä decorer
le, sommet de la terrasse.«.

24) Ross bemerkt in der Vorrede: »Der Verfasser des Textes (Dr. Ross) hat
noch hinzuzufügen, dass er bei demselben im ganzen nur als Redacteur anzusehen
ist, indem wir fast jeden einzelnen Punkt seit Jahren gemeinschaftlich zu besprechen
gewohnt sind.«

Lenoir bezieht sich hier ausdrücklich auf die athenischen
Architekten, d. h. Schaubert und Hansen. Die Reliefplatte
kann er nur flüchtig gesehen haben, da er im Text wie in
dem Aufriss des Tempels von der Nordseite her26) die Kuh
auslässt und auch in der Andeutung der beiden Niken unge-
nau ist. Derselbe Aufriss lässt den Unterbau samt der Ba-
lustrade der Nordseite weiter nach Westen sich ausdehnen,
als dies richtig ist. Die Tafel wie der Aufsatz Lenoirs wollen
offenbar nicht mehr sein als eine vorläufige skizzenhafte Mit-
teilung der von Anderen gefundenen Ergebnisse. Und doch
führt sein Grundriss die Balustrade gleichmässig über Nord-,
West- und Südseite ; auf der Südseite so weit sie auf dem
Plan erscheint, auf der Nordseite wie Schaubert bis an die
kleine Treppe ; aber er hat versäumt, sie längs dieser Treppe
einzuziehen, und hat also an dieser Stelle selbst nicht genau
beobachtet.

Die Aufnahme des russischen Architekten Kousmine,
welche Vincenzo Ballanti am 16. November 1837 der päpst-
lichen archäologischen Akademie zu Rom vorlegte (Disser-
tazioni della Pontificia Accademia Romana di Archeologia IX
S. 151 —180 Taf. 1—6), und diejenige von Landron bei Lebas,
Voyage archeologique en Grece et en Asie mineure (Archi-
tecture Tafel 1—8) gehen auf die Balustrade und ihre Stelle
überhaupt nicht ein.

Es war nur natürlich, dass man allgemein die in dem
Werke der Auffinder des Tempels ausgesprochene Vorstel-
lung von der Beschränkung der Balustrade auf die Nordseite,
mit Einschluss des Einsprungs an der kleinen Treppe, für
thatsächlich gegeben hielt. Penrose gab nichts anderes. Auch
Bötticher in seiner im Jahre 1864 im Philologus, Band XXI
S. 41—72, veröffentlichten Untersuchung dehnte die Balustrade
nicht auf eine andere Seite aus, sondern brachte nur, indem
er, nach dem Vorgange Bursians, die kleine Treppe für nicht
antik hielt, den Irrtum hinzu, dass sich die Balustrade über
die Stelle der kleinen Treppe hinaus bis zum Südflügel der
Propyläen ohne Unterbrechung gleichmässig fortgesetzt habe.
Schöne in der Erläuterung seiner Aufnahme der Terrasse
(Balustrade x Tafel IV S. 42 — 46) konnte für die Umbiegung
der Balustrade nicht nur das von uns zusammengesetzte Eck-
stück — von welchem wir damals glaubten, dass es unmög-
lich an eine andere Stelle gehören könne —, sondern das
schlechterdings zwingende Merkmal der in dem Gesimsstück
erhaltenen Lehre anführen.

Der Fund eines zweiten rechtwinkligen Eckstückes im
Jahr 1877 machte es ohne weiteres einleuchtend, dass die
Ross-Schaubert'sche Einschränkung der Balustrade auf die
Nordseite und ihren Einsprung längs der Treppe nicht richtig
war. Da der Winkel an der Nordwestecke des Unterbaues ein
stumpfer ist, so ergeben sich für die Unterbringung des neuen
Eckstücks folgende Möglichkeiten: Erstens kann dasselbe an
die Stelle des früher bekannten , von uns an die Ecke der
Treppe und der Nordseite gesetzten, Eckstückes rücken —
aber dann würde für dieses ein anderer Platz zu suchen sein,
so dass die Beweisführung in Betreff der grösseren Ausdeh-
nung der Balustrade dieselbe bleibt. Zweitens kann es an die
Südwestecke des Unterbaues gehören. Drittens ist denkbar,
dass die Balustrade an der Südseite noch einen nach innen
einspringenden Teil, entsprechend dem längs der Treppe
einspringenden Teil der Nordseite, hatte. Endlich steht,

25) Monuments inedits publi^s par la section francaise de l'Institut archeo-
logique I (1837) Taf. 7.
 
Annotationen