3. Hann Trier: Sequenz nach J.-E. Liotard La fasse au chocolat. L'arrivee, 1991
lichte Hann Trier Lessings Fabel Tiresias in einem
Zyklus aus sechzehn Lithographien10 und mehre-
ren vorbereitenden Aquarellstudien (Abb. 6) gera-
de aus den Möglichkeiten einer prozessual verzeit-
lichten, abstrahierenden Malerei. Lessings Fabel
handelt von einer zweifachen Geschlechtsver-
wandlung des Tiresias, deren auslösendes Moment
jedesmal ein Stockschlag auf zwei Schlangen ist.
Triers Aquarell (Abb. 6) zeigt genau den Moment
vor der ersten Verwandlung des Tiresias, in dem
sein Stab in dynamischen Schwarzlineaturen tren-
nend zwischen die ineinander verschlungenen far-
bigen Schlangenkörper fährt: »da hub Tiresias sei-
nen Stab & schlug unter die verliebten Schlan-
gen«^. Im Gegensatz zu Lessing war Trier der
Ansicht, daß die »Malerei wie die Tragödie zualler-
erst mimesis praxeos, das Nachvollziehen von
Ereignissen, die nur vorgestellt sind und der >Auf-
führung< nicht bedürfen«, ist; das mimetische
Moment wird dabei »in den Autor verlegt, in seine
Taten und Leiden: Seine lexis ist das Finden der
Form, sein rhythmos der Pinselzug, sein melos die
Valeurs, das Helldunkel, die Farbigkeit.«12 Trotz des
historischen Abstands zwischen den beiden Wer-
ken Triers konvergiert der künstlerische Sinn in sei-
ner Auseinandersetzung mit Lessing und Liotard in
die gleiche Richtung einer stimmigen Positionsbe-
stimmung.
Triers Experimentieren mit dem ästhetischen Phä-
nomen des beschleunigten Blicks ist nicht ohne
wahrnehmungsgeschichtlichen Hintergrund: Vor
allem Henri Bergson und Maurice Merleau-Ponty
haben in ihren philosophischen Untersuchungen
das Problem der bewegten Wahrnehmung ein-
dringlich thematisiert13. Nicht zuletzt unter dem
Eindruck der bahnbrechenden Relativierungen der
12
lichte Hann Trier Lessings Fabel Tiresias in einem
Zyklus aus sechzehn Lithographien10 und mehre-
ren vorbereitenden Aquarellstudien (Abb. 6) gera-
de aus den Möglichkeiten einer prozessual verzeit-
lichten, abstrahierenden Malerei. Lessings Fabel
handelt von einer zweifachen Geschlechtsver-
wandlung des Tiresias, deren auslösendes Moment
jedesmal ein Stockschlag auf zwei Schlangen ist.
Triers Aquarell (Abb. 6) zeigt genau den Moment
vor der ersten Verwandlung des Tiresias, in dem
sein Stab in dynamischen Schwarzlineaturen tren-
nend zwischen die ineinander verschlungenen far-
bigen Schlangenkörper fährt: »da hub Tiresias sei-
nen Stab & schlug unter die verliebten Schlan-
gen«^. Im Gegensatz zu Lessing war Trier der
Ansicht, daß die »Malerei wie die Tragödie zualler-
erst mimesis praxeos, das Nachvollziehen von
Ereignissen, die nur vorgestellt sind und der >Auf-
führung< nicht bedürfen«, ist; das mimetische
Moment wird dabei »in den Autor verlegt, in seine
Taten und Leiden: Seine lexis ist das Finden der
Form, sein rhythmos der Pinselzug, sein melos die
Valeurs, das Helldunkel, die Farbigkeit.«12 Trotz des
historischen Abstands zwischen den beiden Wer-
ken Triers konvergiert der künstlerische Sinn in sei-
ner Auseinandersetzung mit Lessing und Liotard in
die gleiche Richtung einer stimmigen Positionsbe-
stimmung.
Triers Experimentieren mit dem ästhetischen Phä-
nomen des beschleunigten Blicks ist nicht ohne
wahrnehmungsgeschichtlichen Hintergrund: Vor
allem Henri Bergson und Maurice Merleau-Ponty
haben in ihren philosophischen Untersuchungen
das Problem der bewegten Wahrnehmung ein-
dringlich thematisiert13. Nicht zuletzt unter dem
Eindruck der bahnbrechenden Relativierungen der
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