jemanden auch nicht das Geringste. Wie wüst waren sie mit
Armen und Aotleidenden! Sie wurden unbarmherzig abgewie-
sen und obendrein noch mit kränkenden Schimpfworten beglei-
tet. Konnte es da wundernehmen. dah kein Mensch sie leiden
mochte? Aur ein einziger Freund leistete den Geizhälsen Ge-
sellschaft. Das war ein kleiner Vogel, eine Meise, die in einem
Käfig gefangen gehalten wurde und durch ihr Gezwitscher die
oft unheimliche Stille ihrer Behausung unterbrach. Eines Ta-
ges aber rechnete der eine der Brüder aus: Die Meise frißt
jeden Tag eine Auh. das macht im Iahr sage und schreibe 365
Aüsse. Welch eine Derschwendung! So darf das nicht weiter-
gehen! Schnell öffnete er den Käfig. und das Mglein flog ju-
bilierend zum geöffneten Fenster hinaus. dem Wald und der
Sonne entgegen. 2n den muffigen Räumen der Knicker aber
hörte man jeht nur noch das Knittern der Pergamente, auf de-
nen sie errechneten, wie sie an Geld und Gut noch mehr auf-
häufen könnten — und das Rascheln der Ratten, die darauf
warteten, die Drüder samt ihren Schätzen aufzufressen.
(Nach Schnezler und Guckenhan)
Die trauernde Iungfrau von Windeck.
Vor Zeiten lebte auf der Durg Windeck bei Weinheim ein
Ritter, dessen Frau bei der Geburt eines Mädchens gestorben
war. Eine Frau aus dem nahen Müll säugte und nährte das
Kind neben ihrem eigenen Söhnchen. So wuchs das Mädchen
bald zu einer blühenden Iungfrau heran. Ihre Schönheit und
Anmut war der Stolz ihres Daters. und eS fehlte nicht an
Freiern aus den Reihen der benachbarten Ritter. Aber zum
Derdruß des Daters wies das Mädchen alle Bewerber ab. Sie
hatte ihr Herz dem Genossen ihrer Kindheit, dem Sohne der
armen Pflegefrau geschenkt, der als Knappe auf der Windeck
Dienst tat. Als eines Tages wieder einer der angesehensten
Ritter von ihr barsch abgewiesen worden war, wollte der Da->
ter sich mit ihr aussprechen und ihr nahelegen. dah jetzt die Zeit
zur Entschließung da sei, und daß es sein Wunsch sei, sie bald
als Braut zu sehen. Da er sie in ihrem Zimmer nicht fand,
suchte er sie an ihrem Lieblingsplätzchen im Burggarten. Hier
hörte er, durch einen Rosenstrauch verdeckt, wie der Knappe seine
Pflegeschwester beschwor, von ihm zu lassen; er wolle in die
Fremde ziehen und daher müßten sie voneinander scheiden. Das
Mädchen aber umarmte ihn und rief: „Lieber will ich sterben.
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Armen und Aotleidenden! Sie wurden unbarmherzig abgewie-
sen und obendrein noch mit kränkenden Schimpfworten beglei-
tet. Konnte es da wundernehmen. dah kein Mensch sie leiden
mochte? Aur ein einziger Freund leistete den Geizhälsen Ge-
sellschaft. Das war ein kleiner Vogel, eine Meise, die in einem
Käfig gefangen gehalten wurde und durch ihr Gezwitscher die
oft unheimliche Stille ihrer Behausung unterbrach. Eines Ta-
ges aber rechnete der eine der Brüder aus: Die Meise frißt
jeden Tag eine Auh. das macht im Iahr sage und schreibe 365
Aüsse. Welch eine Derschwendung! So darf das nicht weiter-
gehen! Schnell öffnete er den Käfig. und das Mglein flog ju-
bilierend zum geöffneten Fenster hinaus. dem Wald und der
Sonne entgegen. 2n den muffigen Räumen der Knicker aber
hörte man jeht nur noch das Knittern der Pergamente, auf de-
nen sie errechneten, wie sie an Geld und Gut noch mehr auf-
häufen könnten — und das Rascheln der Ratten, die darauf
warteten, die Drüder samt ihren Schätzen aufzufressen.
(Nach Schnezler und Guckenhan)
Die trauernde Iungfrau von Windeck.
Vor Zeiten lebte auf der Durg Windeck bei Weinheim ein
Ritter, dessen Frau bei der Geburt eines Mädchens gestorben
war. Eine Frau aus dem nahen Müll säugte und nährte das
Kind neben ihrem eigenen Söhnchen. So wuchs das Mädchen
bald zu einer blühenden Iungfrau heran. Ihre Schönheit und
Anmut war der Stolz ihres Daters. und eS fehlte nicht an
Freiern aus den Reihen der benachbarten Ritter. Aber zum
Derdruß des Daters wies das Mädchen alle Bewerber ab. Sie
hatte ihr Herz dem Genossen ihrer Kindheit, dem Sohne der
armen Pflegefrau geschenkt, der als Knappe auf der Windeck
Dienst tat. Als eines Tages wieder einer der angesehensten
Ritter von ihr barsch abgewiesen worden war, wollte der Da->
ter sich mit ihr aussprechen und ihr nahelegen. dah jetzt die Zeit
zur Entschließung da sei, und daß es sein Wunsch sei, sie bald
als Braut zu sehen. Da er sie in ihrem Zimmer nicht fand,
suchte er sie an ihrem Lieblingsplätzchen im Burggarten. Hier
hörte er, durch einen Rosenstrauch verdeckt, wie der Knappe seine
Pflegeschwester beschwor, von ihm zu lassen; er wolle in die
Fremde ziehen und daher müßten sie voneinander scheiden. Das
Mädchen aber umarmte ihn und rief: „Lieber will ich sterben.
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