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Adama van Scheltema, Frederik
Die altnordische Kunst: Grundprobleme vorhistorischer Kunstentwicklung — Berlin: Mauritius-Verl., 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.62960#0039
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DAS ORNAMENT DER NATURVÖLKER

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sich widersprechende Kunstbetätigungen nebeneinander: die physioplastische
Naturprojektion und die abstrakt-geometrische Gerätornamentik, von denen
die erste ihrer Eigenart gemäß aus der Geschichte der Kunst ausscheiden mußte.
Dadurch erhält aber diese andere Kunsttätigkeit, die von vornherein ideo-
plastisch geartete, geistig-schöpferische, geometrische Ornamentik, eine ungleich
höhere Bedeutung; denn es muß einleuchten, daß nur sie uns durch ihr Wesen
und Werden über den Anfang der Kunst Aufschluß bieten kann. Die physio-
plastische Tierdarstellung führt uns in eine Sackgasse, die ersten unscheinbaren
geometrischen Ornamente bezeichnen den Anfang des Weges, dem die geistig-
künstlerische Entwicklung gefolgt ist.
Das Ornament der Naturvölker. Wenn ich hier nun noch ein weiteres Gebiet
ornamentaler Kunsttätigkeit mit der Kunst der Naturvölker heranziehe, ge-
schieht dies nur, um an der Hand der ethnologischen Erklärungsversuche etwas
tiefer in das Problem vom Anfang der Kunst einzudringen. Zu einer eingehenden
Auseinandersetzung mit der Kunst der noch lebenden primitiven Stämme besteht
keine Veranlassung. Es ist schon vondenverschiedensten Seiten mit Recht betont
worden, daß die unbedenkliche Gleichsetzung oder übereilte Vergleichung der
Kunst der Naturvölker mit den ersten Anfängen der europäischen Kunstentwick-
lung zu groben Irrtümern führen muß. Die Tatsache, daß in diesen Anfängen der
Keim einer durch Jahrtausende fortgesetzten geistigen Entwicklung beschlossen
liegt, während die Kunst der Naturvölker an einer chronischen Primitivität leidet
oder sich nur innerhalb enggezogener Grenzen als entwicklungsfähig erwiesen hat,
weist schon mit Sicherheit darauf hin, daß wir von vornherein mit anderen
geistigen Faktoren zu rechnen haben. In der Tat zeigt das von den Ethnologen
gesammelte Material höchstens eine Verwandtschaft mit den Kunsterscheinun-
gen in der Paläolithik oder dem vorhistorischen Orient, dagegen nicht die ge-
ringste Übereinstimmung mit der europäischen Kunst seit der Neolithik. Es ist
sehr wohl möglich, sogar wahrscheinlich, daß die geometrische Kunst hier wie
dort auf den gleichen Ursprung zurückgeht. Ist dies aber der Fall, so vermögen
wir das Werden und die erste Entfaltung dieser Kunst ungleich besser an der
Hand der annähernd gesicherten Aufeinanderfolge der prähistorischen Kultur-
schichten zu verfolgen als in der Kunst der Naturvölker, über deren nahezu
völlig unbekannte Geschichte und unkontrollierbare Beeinflussung uns auch
ihre Urheber nichts aussagen können. Endlich ist die logische Unzulänglichkeit
der gebräuchlichen ethnologischen Erklärungen schon von kunsthistorischer
Seite erkannt und in wertvollen Arbeiten dargelegt worden1, so daß wir uns
hier auf einige kurze Bemerkungen beschränken können.
Betrachten wir eine nach Hjalmar Stolpe aus der Ornamentik der Hervey-
Insulaner zusammengestellte Formenreihe (Abb. 6), so läßt sich in der Tat die
1. Vgl. Aug. Schmarsow in Zeitschrift für Ästhetik, 1910; Elisabeth Wilson, Das
Ornament (Dissertation) 1914, eine lehrreiche, zusammenfassende Darstellung, die
leider bei der Beurteilung der prähistorischen Kunsterscheinungen völlig versagt.
Über die ethnologischen Hypothesen vgl. auch Ho er n es, Urgeschichte der bilden-
den Kunst.
 
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