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DIE FLECHTWERKHYPOTHESE
nicht weiter verwundern, daß es noch in der Volkskunst unserer Tage an den
verschiedensten Stellen anzutreffen ist, ohne daß die Ledertechnik damit das
geringste zu tun hätte. Der hier (Taf. III, 6) abgebildete Bauerntopf aus Burg-
hausen trägt genau die gleichen, durch Fingertupfen gegliederten Tonleisten,
wde wir sie in den Schweizer Pfahlbauten finden; andere Beispiele sind in der
Bauerntöpferei der Schweiz — auf Kacheln! —, Österreichs, Schwedens usw.
nicht selten anzutreffen1.
Es ist deshalb wichtig, hier, bei den frühesten neolithischen Gefäßen und ihrer
Verzierung, die Technik der Töpferei wieder in ihre Rechte einzusetzen, weil
wir damit ein starkes Argument in die Hand bekommen gegen die interessantere
textil-technische Theorie, deren Besprechung ich gleich anschließe.
Während die gerade Linie und ihre Zusammenstellungen für uns das sichere
Zeichen waren, daß die ornamentale Kunst sich endgültig von der Technik
(Töpferei) befreit hatte und sich vorbehaltlos auf ihre eigenartigen, struktiv-
symbolischen Aufgaben besann, hat man gerade diese geometrische Regelmäßig-
keit des reiferen neolithischen Stils als den Beweis dafür aufgefaßt, daß wiederum
die Anlehnung an ei ne fremde Technik stattgefunden habe. Gemeint ist di e Flecht-
technik, in zweiter Linie die Technik des Webens, Bindens, Verschnürens usw.
Bei der mangelnden Einsicht in die künstlerische Eigenart des Ornaments
kann die allgemeine Beliebtheit dieser textilen Erklärung nicht überraschen.
Selbständig erfunden durfte das geradlinige, geometrische Muster nicht sein,
also mußte es nachgeahmt sein. Aber gerade für dieses Muster ließen sich keine
geeignete Vorlagen in der Natur finden, denn die gerade Linie bleibt dort eine
Ausnahme. Vollkommen rein herrschen geradlinige Systeme im Reich der Kri-
stalle, an deren Nachahmung aber nicht gedacht werden konnte. Das organische
Leben aber ist so weit über das rein mechanische Geschehen hinaus, und auch
die anorganische Welt unterliegt so tausenderlei Hemmungen und Einwirkungen,
daß die freie Auswirkung einer einzelnen Kraft, erscheinend als gerade Linie,
nur ausnahmsweise auf tritt und auch die streng rhythmische Wiederholung ein-
fachster geometrischer Elemente zu den Ausnahmen gehört2. Um so näher
mußte es liegen, das gesuchte Vorbild bei den textilen Techniken zu suchen, wo
1. Studio, special number 1910. Fig. 225, 1911. Abb. 24, 28.
2. Bei einer „Nachahmung“ des so häufig in der Zeit erscheinenden Rhythmus durch
Ornament läßt sich nichts denken. Die künstlerische, d. h. nur dem Schein dienende,
Darstellung des zeitlichen Rhythmus geschieht durch die amelodische Musik und
den Tanz. Allerdings besteht hier eine eigenartige Verwandtschaft mit dem Orna-
ment, insofern sich auch die sogenannten musischen Künste auf einen natür-
lichen, zweckdienlichen „Gegenstand“ beziehen: dieser ist nun nicht das Gerät, son-
dern die natürliche Handlung, Kampf, Liebeswerbung, Jagd, Arbeit. Merkwürdiger-
weise hat man, im Gegensatz zur Ornamentik, bei der Erklärung des rhythmischen
Tanzes und der ihn begleitenden Musik gerne auf den engen Zusammenhang mit
dem „natürlichen Untergrund“ hingewiesen (Bücher, Arbeit und Rhythmus). Hat
die musische Kunst sich noch nicht von diesem natürlichen Untergrund gelöst, son-
dern haftet sie, wie bei der rhythmischen Begleitung der Arbeit, noch unmittelbar an
der nützlichen Handlung, so scheint die Parallele zur Geräteromantik vollkommen:
die Veranschaulichung oder Betonung der wirksamen Kräfte geschieht das eine Mal
DIE FLECHTWERKHYPOTHESE
nicht weiter verwundern, daß es noch in der Volkskunst unserer Tage an den
verschiedensten Stellen anzutreffen ist, ohne daß die Ledertechnik damit das
geringste zu tun hätte. Der hier (Taf. III, 6) abgebildete Bauerntopf aus Burg-
hausen trägt genau die gleichen, durch Fingertupfen gegliederten Tonleisten,
wde wir sie in den Schweizer Pfahlbauten finden; andere Beispiele sind in der
Bauerntöpferei der Schweiz — auf Kacheln! —, Österreichs, Schwedens usw.
nicht selten anzutreffen1.
Es ist deshalb wichtig, hier, bei den frühesten neolithischen Gefäßen und ihrer
Verzierung, die Technik der Töpferei wieder in ihre Rechte einzusetzen, weil
wir damit ein starkes Argument in die Hand bekommen gegen die interessantere
textil-technische Theorie, deren Besprechung ich gleich anschließe.
Während die gerade Linie und ihre Zusammenstellungen für uns das sichere
Zeichen waren, daß die ornamentale Kunst sich endgültig von der Technik
(Töpferei) befreit hatte und sich vorbehaltlos auf ihre eigenartigen, struktiv-
symbolischen Aufgaben besann, hat man gerade diese geometrische Regelmäßig-
keit des reiferen neolithischen Stils als den Beweis dafür aufgefaßt, daß wiederum
die Anlehnung an ei ne fremde Technik stattgefunden habe. Gemeint ist di e Flecht-
technik, in zweiter Linie die Technik des Webens, Bindens, Verschnürens usw.
Bei der mangelnden Einsicht in die künstlerische Eigenart des Ornaments
kann die allgemeine Beliebtheit dieser textilen Erklärung nicht überraschen.
Selbständig erfunden durfte das geradlinige, geometrische Muster nicht sein,
also mußte es nachgeahmt sein. Aber gerade für dieses Muster ließen sich keine
geeignete Vorlagen in der Natur finden, denn die gerade Linie bleibt dort eine
Ausnahme. Vollkommen rein herrschen geradlinige Systeme im Reich der Kri-
stalle, an deren Nachahmung aber nicht gedacht werden konnte. Das organische
Leben aber ist so weit über das rein mechanische Geschehen hinaus, und auch
die anorganische Welt unterliegt so tausenderlei Hemmungen und Einwirkungen,
daß die freie Auswirkung einer einzelnen Kraft, erscheinend als gerade Linie,
nur ausnahmsweise auf tritt und auch die streng rhythmische Wiederholung ein-
fachster geometrischer Elemente zu den Ausnahmen gehört2. Um so näher
mußte es liegen, das gesuchte Vorbild bei den textilen Techniken zu suchen, wo
1. Studio, special number 1910. Fig. 225, 1911. Abb. 24, 28.
2. Bei einer „Nachahmung“ des so häufig in der Zeit erscheinenden Rhythmus durch
Ornament läßt sich nichts denken. Die künstlerische, d. h. nur dem Schein dienende,
Darstellung des zeitlichen Rhythmus geschieht durch die amelodische Musik und
den Tanz. Allerdings besteht hier eine eigenartige Verwandtschaft mit dem Orna-
ment, insofern sich auch die sogenannten musischen Künste auf einen natür-
lichen, zweckdienlichen „Gegenstand“ beziehen: dieser ist nun nicht das Gerät, son-
dern die natürliche Handlung, Kampf, Liebeswerbung, Jagd, Arbeit. Merkwürdiger-
weise hat man, im Gegensatz zur Ornamentik, bei der Erklärung des rhythmischen
Tanzes und der ihn begleitenden Musik gerne auf den engen Zusammenhang mit
dem „natürlichen Untergrund“ hingewiesen (Bücher, Arbeit und Rhythmus). Hat
die musische Kunst sich noch nicht von diesem natürlichen Untergrund gelöst, son-
dern haftet sie, wie bei der rhythmischen Begleitung der Arbeit, noch unmittelbar an
der nützlichen Handlung, so scheint die Parallele zur Geräteromantik vollkommen:
die Veranschaulichung oder Betonung der wirksamen Kräfte geschieht das eine Mal