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VERHÄLTNIS ZUM TRÄGER
zeit angestrebt wurde, verwirklicht sich hier in vollendeter Weise dadurch, daß
das Ornament sich selbständig neben den Träger stellt, einer vom
Körper getrennten geistigen Form vergleichbar. Aber auch mit dem Randorna-
ment der runden Schmuckplatten geschah etwas ähnliches: in dem Grade, wie
die Randlinie sich vom Rande auf die Mitte zurückzieht, verliert sie ihren
Charakter als Randomament bis an irgendeiner Stelle der entscheidende Um-
schlag eintritt und die kreisförmige Linie sich überhaupt nicht mehr auf den
Rand, sondern auf den Kern bezieht, nicht mehr peripherisch ist, sondern
zentrisch, nicht mehr die äußere abtastbare Körperform betont, son-
dern den inneren, unfaßbaren Kern umspielt: es ist, als ob die Kunst-
form sich von dem Körper auf die Seele zurückzöge1. Die Tatsache, daß die
Kunst der zweiten Montelius-Stufe geradezu schwelgt in dieser Verzierung von
runden Platten mit immer enger um den Mittelpunkt kreisenden Linien, scheint
zu beweisen, daß es sich hier durchaus nicht nur um theoretische Erwägungen
handelt, sondern daß dieses seltsame dialektische Spiel mit der Umkehrung des
Randornaments in ein Kernornament einen hohen künstlerischen Reiz aus-
geübt haben muß. Fallen die Mittelpunkte der eingepunzten Kreise aber nicht
mehr mit dem Kern des Trägers zusammen, sondern gruppieren jene sich in
Reihen um die Mitte der runden Platte, so hat sich auch hier die neue ornamen-
tale Form als solche völlig vom Träger emanzipiert.
Eine Gegenüberstellung der beiden Grundelemente der neolithischen und
bronzezeitlichen Kunst bestätigt den radikalen Charakter der vollzogenen
Wandlung. Im Gegensatz zu der körperlosen geraden Linie, die in ihrer Exi-
stenz völlig vom Träger abhängig war, erscheint der Kreis als ein selbständiges
in sich geschlossenes Individuum, als ein Mikrokosmos, dessen Teile sich alle
auf einen Kem, den durchwegs betonten Mittelpunkt dieser Kreise, beziehen.
i. Wer die Geschichte der Kunst als Spiegel der geistigen Entwicklung versteht, wird
darauf gefaßt sein, daß der völlige Wandel der künstlerischen Anschauung, der sich
in der Bronzezeit vollzieht, auf anderen geistigen Gebieten eine Parallele gefunden
haben muß. Als eine solche betrachte ich den Übergang von der Körperbestattung
zur Leichenverbrennung, die sich im Laufe der Bronzezeit durchsetzt. Auch wenn
wir uns hüten, die Bedeutung der Leichenverbrennung im Sinne moderner religiöser
Anschauungen zu überschätzen, ist doch nicht daran zu zweifeln, daß ihr ein tief-
religiöser Sinn zugrunde liegen muß und daß sich in ihr ein, sei es auch noch so
primitiver Glauben an das lösbare Verhältnis zwischen Körper und Geist (Seele)
ausspricht. Die prinzipielle Abwendung des geistig-künstlerischen Interesses von der
gegebenen Zweckform, die endgültige Befreiung des Ornaments als geistiger Form
von der natürlichen Form des Trägers, die sich in der Bronzezeit vollzieht, erscheint
da nur als der symbolische Ausdruck der neuen religiösen Anschauung, nach wel-
cher die Quelle des geistigen Lebens nicht mehr identisch und nicht mehr unlösbar
verknüpft erschien mit dem natürlichen Körper. — Leider verbieten mir Grenzen
und Ziel dieser Untersuchung, auf die eminent wichtigen Beziehungen besonders
zwischen der künstlerischen und religiösen Entwicklung im nordischen Altertum
einzugehen. Die hier gegebene Andeutung sollte nur zeigen, wie sich die Geschichte
des altnordischen Ornaments und seines Verhältnisses zum natürlichen, zweckbestimm-
ten Substrat (Träger) unmittelbar in die Geschichte des altnordischen Geistes in seiner
wechselnden Beziehung zur Natur übersetzen läßt.
VERHÄLTNIS ZUM TRÄGER
zeit angestrebt wurde, verwirklicht sich hier in vollendeter Weise dadurch, daß
das Ornament sich selbständig neben den Träger stellt, einer vom
Körper getrennten geistigen Form vergleichbar. Aber auch mit dem Randorna-
ment der runden Schmuckplatten geschah etwas ähnliches: in dem Grade, wie
die Randlinie sich vom Rande auf die Mitte zurückzieht, verliert sie ihren
Charakter als Randomament bis an irgendeiner Stelle der entscheidende Um-
schlag eintritt und die kreisförmige Linie sich überhaupt nicht mehr auf den
Rand, sondern auf den Kern bezieht, nicht mehr peripherisch ist, sondern
zentrisch, nicht mehr die äußere abtastbare Körperform betont, son-
dern den inneren, unfaßbaren Kern umspielt: es ist, als ob die Kunst-
form sich von dem Körper auf die Seele zurückzöge1. Die Tatsache, daß die
Kunst der zweiten Montelius-Stufe geradezu schwelgt in dieser Verzierung von
runden Platten mit immer enger um den Mittelpunkt kreisenden Linien, scheint
zu beweisen, daß es sich hier durchaus nicht nur um theoretische Erwägungen
handelt, sondern daß dieses seltsame dialektische Spiel mit der Umkehrung des
Randornaments in ein Kernornament einen hohen künstlerischen Reiz aus-
geübt haben muß. Fallen die Mittelpunkte der eingepunzten Kreise aber nicht
mehr mit dem Kern des Trägers zusammen, sondern gruppieren jene sich in
Reihen um die Mitte der runden Platte, so hat sich auch hier die neue ornamen-
tale Form als solche völlig vom Träger emanzipiert.
Eine Gegenüberstellung der beiden Grundelemente der neolithischen und
bronzezeitlichen Kunst bestätigt den radikalen Charakter der vollzogenen
Wandlung. Im Gegensatz zu der körperlosen geraden Linie, die in ihrer Exi-
stenz völlig vom Träger abhängig war, erscheint der Kreis als ein selbständiges
in sich geschlossenes Individuum, als ein Mikrokosmos, dessen Teile sich alle
auf einen Kem, den durchwegs betonten Mittelpunkt dieser Kreise, beziehen.
i. Wer die Geschichte der Kunst als Spiegel der geistigen Entwicklung versteht, wird
darauf gefaßt sein, daß der völlige Wandel der künstlerischen Anschauung, der sich
in der Bronzezeit vollzieht, auf anderen geistigen Gebieten eine Parallele gefunden
haben muß. Als eine solche betrachte ich den Übergang von der Körperbestattung
zur Leichenverbrennung, die sich im Laufe der Bronzezeit durchsetzt. Auch wenn
wir uns hüten, die Bedeutung der Leichenverbrennung im Sinne moderner religiöser
Anschauungen zu überschätzen, ist doch nicht daran zu zweifeln, daß ihr ein tief-
religiöser Sinn zugrunde liegen muß und daß sich in ihr ein, sei es auch noch so
primitiver Glauben an das lösbare Verhältnis zwischen Körper und Geist (Seele)
ausspricht. Die prinzipielle Abwendung des geistig-künstlerischen Interesses von der
gegebenen Zweckform, die endgültige Befreiung des Ornaments als geistiger Form
von der natürlichen Form des Trägers, die sich in der Bronzezeit vollzieht, erscheint
da nur als der symbolische Ausdruck der neuen religiösen Anschauung, nach wel-
cher die Quelle des geistigen Lebens nicht mehr identisch und nicht mehr unlösbar
verknüpft erschien mit dem natürlichen Körper. — Leider verbieten mir Grenzen
und Ziel dieser Untersuchung, auf die eminent wichtigen Beziehungen besonders
zwischen der künstlerischen und religiösen Entwicklung im nordischen Altertum
einzugehen. Die hier gegebene Andeutung sollte nur zeigen, wie sich die Geschichte
des altnordischen Ornaments und seines Verhältnisses zum natürlichen, zweckbestimm-
ten Substrat (Träger) unmittelbar in die Geschichte des altnordischen Geistes in seiner
wechselnden Beziehung zur Natur übersetzen läßt.