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Krebs, Carl; Königliche Akademie der Künste zu Berlin [Contr.]
Schaffen und Nachschaffen in der Musik: Rede zur Feier des allerhöchsten Geburtstages Seiner Majestät des Kaiser und Königs am 27. Januar 1902 in der öffentlichen Sitzung der Königlichen Akademie der Künste — Berlin: Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Königliche Hofbuchhandlung, 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.70862#0009
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sie mit ihren Naturvorbildern vergleichen, und dann feststellen,
wie sich die Art, die Natur anzuschauen, seit damals ver-
ändert hat. Da nun in der Musik das gegebene Vorbild
fehlt, so fehlt hiermit auch die natürliche Urteilsbasis; und
deshalb schuf man sich eine künstliche: jedes Jahrhundert
betrachtete die Art der Musik, die gerade in ihm eine gewisse
Zeit lang ausgeübt war, als die gute und gültige, und beurteilte
von ihr aus jede andere. Zur Vergangenheit, zum Alten liess
sich, falls es nicht gar zu weit zurücklag, immer noch ein Ver-
hältnis finden, nicht aber zu einem etwa hereinbrechenden
Neuen. Hier fehlte, da eben das Urteil allein vom Gewohnten
ausging, und allein von dort ausgehen konnte, ein brauchbarer
Massstab gänzlich. So kam es, das Jeder, der etwas Neues
in der Musik aufbrächte, als Tempelschänder verklagt, dass
jeder neue Weg als zum Verfall der Kunst führend be-
zeichnet wurde.
Die Klagen über den Verfall der Musik scheinen so alt
zu sein, wie die Musik selbst. Schon bei den griechischen
Musikschriftstellern begegnen wir ihnen, und wir treffen sie
wieder bei den mönchischen Theoretikern des Mittelalters.
Die musikalische Praxis hatte sich bis dahin mit einem Ton-
vorrat von zwei Oktaven begnügt. Ein kühner Mann setzte
diesen zwei Oktaven in der Tiefe noch einen Ton hinzu, und
dann kamen Leute, denen — man sollte es nicht für möglich
halten — selbst dies noch nicht genug war, und die auch
in der Höhe einige Töne anfügten. Natürlich zogen sich
diese pietätlosen Neuerer den Tadel aller Gutgesinnten zu,
gegen den sie Guido von Arezzo ausdrücklich mit dem
Hinweis verteidigt, dass es besser sei, Überfluss zu haben,
als Mangel zu leiden.
 
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