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Adler, Friedrich
Baugeschichtliche Forschungen in Deutschland (Band 1): Die Kloster- und Stiftskirchen auf der Insel Reichenau — Berlin, 1870

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https://doi.org/10.11588/diglit.7766#0019
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und kunstlos construirten Kasten mit aufgestelltem Steindeckel.

Die übrigen Bautheile der Münsterkirche, nämlich das
Langhaus, die beiden Querschiffe und die Westapsis nebst
Thurm und Vorhallen zeigen zwar sämmtlich romanische Bau-
formen, entslammen aber dennoch wieder verschiedenen Epo-
chen dieser Bauweise.

Zunächst imponirt, die westliche Hälfte durch ihre Gröfse
und Weiträumigkeit, wenn auch der Eindruck durch die ge-
ringen Höhenmaafse von 40-^ Fufs für das Mittelschiff, und
18j Fufs für die Seitenschiffe erheblich vermindert wird. Auch
die Vierungsbogen und Arkadenbogen sind niedrig und ge-
drückt, (vergl. die Schnitte auf Blatt IV, Fig. 4, 5 und 6), so
dafs die Eigenschaft des Aufstrebens in dem Baue völlig fehlt.
In technischer und formaler Beziehung unterscheiden sich wie-
der das östliche Querschiff und das dreischiffige Langhaus von
dem westlichen Querschiffsbaue vollständig. Unschwer erkennt
man, dafs die Pfeilerarkaden mit ihren Obermauern, sowie
die Obertheile der Vierungspfeiler im Ostquerschiffe jünger
sind, als der stattliche Westbau mit seinen Theilen.

Die SchHFspfeiler sind aus grofsen Quadern von Grün-
sandstein hergestellt, deren Steinmetztechnik mit feiner Riffe-
lung in senkrechter Richtung von der entsprechenden Technik
an den Vierungs- und Vorhallen-Pfeilern des Westbaues
ebenso völlig abweicht, als die Gröfse der verwendeten
Quadern, ihre Textur und Färbung in beiden Theilen ver-
schieden ist. Die Basen der Schiffspfeiler sind einfach ab-
geschrägte Plintbensteine; ihre Kapitelle (Bl. V; Fig. 8) zei-
gen die gleiche einfache Bossenform, sind aber theils mit
Ranken und Blättern, theils mit reich profilirten Zickzack-
linien in mehr gravirter als gehauener Arbeit geschmückt.
Die Kämpfer der Vierungspfeiler in der östlichen Vierung
besitzen gar keine oder erst im vorigen Jahrhundert ange-
putzte Kunstformen. Auch die Seitenschiffsarkaden nach den
Kreuzflügeln hin sind kämpferlos geblieben, während die
gravirten Kapitelle der Mittelschiffspfeiler mit wohlerhaltener
Kröpfung an den östlichen Mauern des Langhauses (die sich
an die Ostvierung anschliefsen) aufhören. Diese Thatsache
ist nicht zu übersehen, weil sie beweist, dafs diese Osttheile

des Mittelschiffs nicht ver-
ändert worden sondern alt
geblieben sind. Die in der
Ostvierung aufgerichteten und
mit Durchgängen versehenen
steinernen Chorschranken sind
mit den Schiffspfeilern gleich-
zeitig hergestellt worden, wie
dies die Krönung mit ihrer
r'W ~ 11. fein gravirten Arbeit sicher

Bß bestätigt. Der Holzschnitt läfst

Jjf: diese Kunstform sowie die der

einfachen Plinthe erkennen.

MH '-__ Wahrscheinlich stammen auch

y' s o die Vierungsbogen dieses Rau-

mes aus derselben Epoche,
denn die beiden östlichen Bogen steigen auf mehrfach ab-
gestuften Vorkragungen empor; doch läfst sich bei dem Mangel
weiterer Gliederung Entscheidendes nicht aussprechen. Betrach-
tet man aber die charakteristischen Kunstformen der Chorschran-
ken und Schiffspfeiler, insbesondere das Schema mit den Zick-
zackstäben und Kehlen Fig. 8, so erkennt man darin für Deutsch-
land die zweite Hälfte des XII. Jahrhunderts ausgeprägt. In der
Normandie wie in England ist der Zickzackstab mit Kehle in den
verschiedensten Varianten schon sehr früh verwendet worden,
und hat, wie eine stattliche Reihe von Denkmälern aus der
letzten Epoche des romanischen Styls von U60—90 beweist,
eine sehr lange Verwendung gefunden. In Deutschland ist der
Zickzackstab im Ganzen seltener benutzt worden, doch war
er besonders beliebt während der ersten Hohenstaufenzeit.
Dies lehren die wenigen Bruchstücke der kaiserlichen Pfalzen
zu Hagenau und Kaiserslautern, am meisten die schö-
nen Reste zu Gelnhausen und Münzenberg, welche sicher
der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts entstammen. In
strenger Fassung aber fast gleichzeitig zeigen ferner den Zick-
zackstab das Nordportal von St. Jakob zu Regensburg
sowie das Apsisfenster von S. Jean de Choux im Elsafs.
Seine Verwendung hört erst im XIII. Jahrhundert auf, wie
die Domportale zu Bamberg beweisen.

Es ist mir daher unzweifelhaft, dafs die Erbauung der
Schiffspfeiler, Arkaden, Obermauern sowie der Ostvierungs-
bogen in der Münsterkirche jener Bauthätigkeit von 1172 zu-
zuschreiben ist, von welcher Bruschius die oben unter „Histo-
risches" angeführte Nachricht bewahrt hat.119)

Beträchtlich älter sind die beiden Seitenschiffs- sowie die
Umfassungsmauern des östlichen Querschiffs. Der nördliche
Kreuzflügel zeigt aufser den später hinzugefügten abgeböschten
Eckstrebepfeilern, grüne Sandsteinquadern an den Ecken und
eine Mauertextur von kleinen Bruchsteinen mit vielen Ziegeln.
Das gröfse rundbogige Fenster stammt offenbar aus dem vorigen
Jahrhundert. Die Seitenschiffsmauern sind aus kleinen Ge-
schiebestücken mit vielem Mörtel in sehr altertümlicher Tech-
nik erbaut. Sie sind krumm und schief geführt, vielfach ge-
flickt und ihrer alten kleinen Rundbogenfenster, von denen
aber doch sichere Spuren an der Nordseite (auffallend hoch
sitzend) noch sichtbar und mefsbar sind, im XVIII. Jahr-
hundert beraubt worden. Mit Rücksicht auf die spezielle Mit-
theilung des Mönches Purchard in dem früher erwähnten
Gedicht, dafs Witigowo die alte Münsterkirche so sehr erweitert
habe, dafs sie eine der weiträumigsten geworden sei, ....
vAeqnali forma fecit compacte venusta
Tale Deo templum quo non spatiosivs ullum
Omni struetura diverso stemmate fulta
Ut domnits volnit festihans ipse paravit . . ."
sowie in weiterer Erwägung der technisch schlechten, weil
sehr flüchtig hergestellten Arbeit, und der sehr kleinen Fen-
ster glaube ich die beiden Seitenschiffsmauern (ganz sicher
die nördliche) der Bauthätigkeit des Abtes Witigowo um !)!)0
zuschreiben zu dürfen. Aus dieser Zeit stammt auch noch
eine — die letzte Kunstform, — nämlich die einzelne Säule,
welche die beiden Arkaden zwischen dem südlichen Seiten-
schiffs- und dem westlichen Querschiffssüdflügel trägt. Vergl.
den Querschnitt auf Bl. IV, Fig. 4. Es ist dies eine verjüngte
und mäfsig geschwellte Säule auf einfacher Pfühlbasis mit
einem kelchförmigen Kapitell, dessen schlanke Akanthusblätter
ohne Eckstengel den echten Typus byzantinischer mit den
letzten Reminiscenzen der römischen Kunst durchdrungener
Kapitelle vortrefflich erkennen lassen1'20). Ebenso charakte-
ristisch ist der darauf ruhende, zweiseitig abgekehlte und flau
profilirte Kämpferstein, welcher die Stelle des altklassischen
Abakus vertritt; vergl. Bl. IV, Fig. 6. Die dieser Säule ent-
sprechenden ebenfalls abbildlich mitgetheilten Wandpfeiler sind
ganz anders gegliedert und entstammen sicher dem XI. Jahr-
hundert. Die im nördlichen Seitenschiffe früher vorhanden
gewesene Säule, von Hübsch und Bayer im Grundrisse
angegeben, ist jetzt nicht mehr vorhanden, sondern durch
einen nüchternen Oblongpfeiler ersetzt, worden.

An die gesicherte Existenz dieser Säulen sowie an Pur-
chard's Verse darf die begründete Vermuthung geknüpft wer-
den , dafs Witigowo's Umbau der Münsterkirche vom Jahre
991 das Langhaus als eine reich mit byzantinisirenden Orna-
menten geschmückte Säulenbasilika hergestellt hatte, deren
geschickte Verbindung mit den älteren Osttheilen, sowie
Weiträumigkeit und schmuckvolle Durchführung allgemeine
Bewunderung erregten. Durch locale Behinderung seitens der
nördlich belegenen Klostergebäude hat das nördliche Seiten-
schiff nur 21 Fufs Breite erhalten können, während das süd-
liche eine solche von 24 Fufs empfing. Diese Vorliebe für
breite Seitenschiffe ist ebenfalls charakteristisch für die kirch-
liche Baukunst in Deutschland von 960 — 1020. Werthvolle
Beispiele linden sich hierfür in Lothringen, am Nieder-
rhein und im Flsafs; in Sachsen ist besonders Gernrode
zu nennen. Ein noch interessanteres Analogem für Reichenau
bildet Bischof Bernward's stattliche Anlage von St. Michael

ll9) Hübsch bildet a. a. O. Taf. 49 Fig. 11 und 12 diese Pfeiler-
kapitelle unrichtig ab. Im Texte hebt er ihre charakteristischen Kunst-
formen nicht näher hervor, sondern stützt mit sehr schwachen Gründen
seine Ansicht, dafs die Klosterkirche in Mittelzell, der fast vollständig
erhaltene Bau vom Jahre 816 und deshalb neben Aachen (Münster) zu
stellen sei. Es thut mir aufrichtig leid, bei dankbarer Anerkennung von
llübsch's Verdiensten um das Studium der Baugeschichte, hervorheben
zu müssen, dafs der Text zu seinem umfangreichen und mit seltener Aus-
dauer durchgeführten Werke stellenweis mit grofser Flüchtigkeit gear-
beitet ist. Bei den weiteren Mittheilungen dieser Forschungen werde ich
darauf noch zurückkommen.

1 20) Kapitelle von sehr ähnlicher Zeichnung und last völlig gleicher
Behandlung befinden sich in der Krypta des Domes zu Konstanz. Die-
selben sind vom Jahre 995 und helfen die Bauthätigkeit des Abtes \V i
tigowo weiter veranschaulichen.

4*
 
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