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Adler, Friedrich
Baugeschichtliche Forschungen in Deutschland (Band 1): Die Kloster- und Stiftskirchen auf der Insel Reichenau — Berlin, 1870

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https://doi.org/10.11588/diglit.7766#0020
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16

zu Hildesheim, weil dieser Bau aufser den breiten Seiten-
schiffen ebenfalls die Doppelarkaden nach dem Querschiffe hin
noch besitzt12').

Schwieriger, ja ohne Ausgrabungen innen wie aufsen fast
unmöglich ist der Nachweis, dafs die Umfassungsmauern des
östlichen Querschiffs noch dem alten karolingischen Baue vom
Jahre 816 angehören. Ich erachte bei den Maafsverhältnissen
ihre Existenz nicht für unmöglich, aber kaum für wahrschein-
lich. Die wenigen Architekturformen, welche sichtbar sind,
rundbogige Fenster und ein kleines aus Rundstab und Kehle
bestehendes Kranzgesims auf dem Südflügel gehören sicher
dem XI. Jahrhundert an — um 1040 —, zu welcher Zeit
Abt Berno nach jener mehrfach hervorgehobenen Feuerstbrunst
von 1007 einen langjährigen Reparaturbau vorgenommen hat,
der auch diese Stelle berührte.

Die zuletzt noch übrig bleibenden Theile des westlichen
Querschiffs sind — abgesehen wieder von unbedeutenden spä-
teren Erneuerungen — so einheitlich zusammenhängend und
so charakteristisch ausgebildet, dafs ihre analytische Prüfung
wenig Schwierigkeiten macht.

Die Westfront, Blatt V, Fig. 7, zeigt einen breiten mas-
sigen und oblongen Glockenthurm, der mit Lesinen und
Bogenfriesen besetzt, bis zu einer Kranzhöhe von fast 80 Fufs
emporsteigt. Ein Satteldach mit kleinem hölzernen Firstreiter
bedeckt das oberste, nach allen Seiten durch gepaarte Schall-
arkaden geöffnete Glockengeschofs. Neben dem Thurme lie-
gen die tiefen Vorhallen, welche jetzt einstöckig sind, wie es
die Perspektive Blatt II, Fig. 1, darstellt, früher aber zwei-
geschossig waren, wie es die restaurirte Front auf Blatt V er-
kennen läfst. Oberhalb der Vorhallen lagen nämlich zwei Kapel-
len, von denen Oheim a.a.O. S.26ff. ausdrücklich meldet, dafs
sie in seiner Zeit „abgangen sein", d. h. nicht mehr gottes-
dienstlich benutzt wurden. Leider nennt er nicht die Altäre,
sondern giebt nur an, dafs die eine Kapelle zur „Liberyg"
(Bibliothek), die andere zum „Abtsgemach " verwendet worden
sei. Die Existenz dieser Kapellen ist aber dadurch baulich
sicher gestellt, dafs die vierfachen Kleinarkaden an jeder
Seite noch vorhanden sind, mittelst deren diese Nebenräume
mit dem westlichen Querschiffe direkt zusammenhingen. Da
Hübsch auf Bl. 49, Fig. 8 seines Werkes einen richtigen
Durchschnitt durch das westliche Querschiff liefert, so habe
ich von einer Abbildung dieses Bautheils Abstand genommen.
Diese Kapellenarkaden besitzen überhöhte Bogen, welche auf
oblongen Pfeilern mit abgeschrägten Plinthen und Kapitellen
nebst Kämpfersteinen ruhen. Ihre Formation ist sehr ähnlich
derjenigen der kleinen Doppelarkaden in der Südmauer der
Vorhalle von Oberzell. Höchstwahrscheinlich entsprachen die-
sen Bogenreihen dreifach gepaarte Pfeilerarkaden im Westen,
weil Dorst, welcher die Insel 1838 besuchte, noch drei
gepaarte scheitrecht gedeckte Fenster an der Südkapelle in
seinen Reiseskizzen abbildet. Zu jener Zeit stand die Vor-
dermauer noch aufrecht und fiel das Pultdach nach Süden
ab. Noch besser läfst diesen alten zweigeschossigen Aufbau
ein zweites in der Münsterkirche hängendes Oelgemälde von
1738, welches die Ankunft des heiligen Blutes auf der Insel
verherrlicht, erkennen. Da die am Thurme erhaltenen Ab-
bruchsspuren jene Thatsache sicher bestätigen, so habe ich
keinen Anstand genommen, die ursprüngliche Frontbildung
unter Heranziehung aller jener Hülfsmittel in der vorliegenden
Abbildung auf Blatt V, Fig. 7, wiederherzustellen. Hübsch
hat sowohl die Abbruchsspuren übersehen, als das Oelbild in
Mittelzell und Dorst's Reiseskizze unverglichen gelassen; da-
her ist die von ihm publicirte Westfront unrichtig. Charakte-
ristisch sind endlich noch die bunten (roth und weifsgrü-
nen) Sandsteinschichten in den stark gedrückten Stirnbogen
der Vorhalle und den Umrahmungen zweier kleiner Kreis-
fenster in der Westmauer des Querschiffs. Dieser dekorative
Schmuck findet sieh auch an dem Eingangsbogen der Vor-
halle von Oberzell und die kleinen Kreisfenster besitzt in
überraschender Aehnlichkeit der Hochaltar daselbst. Beide
Indicien sprechen für den inneren Zusammenhang beider Bau-
werke in derselben Bauepoche in unzweifelhafter Weise. Die
Mauern des Glockenthurmes und des Westquerschiffs sind in
gleicher Technik aus kleinen Bruchsteinen errichtet und waren

12') Die Anlage sehr breiter Seitenschiffe bei Kirchenbauten des
X. Jahrhunderts in Deutschland bezeichne ich als einen spezifisch byzan-
tinischen Einflufs.

stets geputzt. Und wie das Querhaus rothe, gut gearbeitete
Sandsteinquadern zur Eckverstärkung besitzt, so sind die
Thurmlesinen aus gleichem Materiale hergestellt; dagegen ist
das Material der schlicht und kunstlos zugehauenen Bogen-
friese unerkennbar. Die alten rundbogigen Fenster sind sehr
schmal, stark geschmiegt und nach innen zu mit einem
Steinrahmen ausgesetzt. Die Eingangsbogen beider Vorhallen
besitzen abgekehlte Kämpfersteine aus Grünsandstein. Die
Bogen selbst sind aus langen und schmalen, nicht genau ab-
wechselnden Schichten von grünem und rothem Sandstein con-
struirt. Vergl. Blatt V, Fig. 10. Die Vordermauern der Vor-
hallen zeigen überhaupt einen sehr sorgfältig gestockten, fast
geschliffenen Quaderbau, in welchem der Schichtenwechsel
nicht genau beobachtet ist. Man erkennt hier durchaus einen
aufwändigen, für die Reichenauer Verhältnisse sehr bezeich-
nenden Luxusbau.

Die oberste Glockenstube des Thurmes ist nicht mehr
intakt erhalten, doch hat die oben erwähnte Erneuerung der
herabgestürzten Thurmspitze um 1437 das ganze Geschofs
mit Benutzung des alten Materials wieder hergestellt. Nur
die Lesinen sind weggeblieben und die Arkadenstellungen ge-
ändert worden. Die Detailbildung der Arkadenpfeiler zeigt
Fig. 9 auf Blatt V; ihre Verwandtschaft mit denen in der
Vorhalle von Oberzell ist unverkennbar. Die Grünsandstein-
kämpfer und bunten Bogenschichten fehlen auch hier nicht.

Das Innere des westlichen Querschiffs läfst gleichfalls
überall die farbigen abwechselnden Bogenschichten erkennen
und zwar sowohl an den Vierungsbogen, dem Apsisbogen und
den kleineren Arkaden über der einzelnen Säule an der Grenze
des südlichen Seitenschiffs. Die Bogen sind alle etwas über-
höht, ihre einfach abgekehlten Kämpfer sind klein und wir-
kungslos, ihre Basen unerkennbar.

Im Hintergrunde der Westapsis innerhalb einer besonde-
ren Rundbogennische befindet sich die kleine steinumrahmte
Thür, die zuerst in einen oblongen Vorraum und von dort
aus rechts wie links mittelst zweier Spindeltreppen nach oben
führt. Der Vorraum ist mit einem auf Schaalung herge-
stellten Gufskreuzgewölbe bedeckt, dessen Material theils aus
Geschieben, theils aus grob zugehauenen Kalksteinen besteht.
Die Treppenthürme sind aus reihenweis gelegten Fündlingen
mit schraubenförmig steigenden Gufsgewölben hergestellt wor-
den, welche sich um die starke Spindel herumwinden. Ueber
dem unteren Räume befand sich ein gleicher, aber tonnen-
gewölbter Raum, — offenbar eine Kapelle — welcher sich
mittelst einer nischenförmigen Thür nach der Westapsis hin
öffnete und höchst wahrscheinlich einen Austritt auf einen höl-
zernen oder steinernen (längst verschwundenen) Einbau ge-
stattete. Ich vermuthe, dafs diese Kapelle St. Michael geweiht
war, weil nach Purchard's Beschreibung auch der Bau des
Abtes Witigowo eine im Glockenthurme hoch belegene St.
Michaels Kapelle besafs, und weil überhaupt sehr viele Thurm-
kapellen in deutschen wie französischen Kirchen als Michaels-
kapellen nachweisbar sind.

Ein etwas niedrigerer, aber sonst identischer Raum folgt
darüber und zuletzt vereinigen sich die Austritte beider Spin-
deltreppen 12 2) zu einer von zwei Rund- und zwei Halbsäulen
getragenen, mit einem Tonnengewölbe bedeckten Halle. Die
stark geschwellten Säulen haben als Kapitell den zweiseitig
consolenartig abgerundeten byzantinischen Kämpferstein; ihre
Basen sind versteckt und die Tonnen geputzt. Im Grofsen und
Ganzen treffen wir somit in dem Glockenthurmbau mit seinen
Zwillingstreppen, der Westapsis, dem Querhause und den Vor-
hallen ein einziges streng festgehaltenes Projekt, welches bei
grofser Schlichtheit in der Durchbildung doch die gestellten
Forderungen des Programms in sehr praktischer Weise er-
füllt. Nach dem Gedichte des Purchard war der Umbau,
den Abt Witigowo ausgeführt hatte, durch das Glockenhaus
mit Zwillingsthürmen, Kapellen etc., dem jetzigen Westbau
sehr ähnlich. Doch liegt kein zwingender Grund zu der An-
nahme vor, dafs der jetzige Westbau Witigowo's Bau ist.
Erstlich sprechen alle Kunstformen dagegen und zweitens be-
sonders der Umstand, dafs der jetzige Westbau wesentlich
sich auf den St. Markus-Chor bezieht, während in Witigowo's
Zeit weder ein besonderer St. Markus-Altar noch eine Markus-
Kapelle vorhanden waren. Erst der gestiegenen Verehrung

12'2) Vergl. die Längenschnitte bei Bayer Taf. 3 und Hübsch a. a. O.
Bayer's Durchschnitt ist richtiger.
 
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