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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 6.1888

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Nr. 10
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Keppler, Eugen: Deutschlands Riesenthürme, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15864#0095

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91

Kölner Domthürmen stammt aus dem Jahre
1350. Von 1360—1460 wurde der süd-
liche Thurm bis zum Anfang des dritten
Geschosses emporgeführt; von 1463 an
arbeitete man am Nordthnrm.) Von Köln
geht es abwärts zum Ulmer Münsterthurm,
der den Herbst bedeutet, aber einen sonnigen
und fruchtbaren Herbst, welcher noch eine
Triebkraft offenbart, an der manche, auch
an Leistungen nicht gerade arme Zeit froh
wäre: wenn auch die Aenßernng dieser
Triebkraft nicht mehr ganz naturwüchsig
ist und manches Gebilde schon den Stempel
des Gemachten trägt. (Die Gründung
fällt in's Jahr 1377. Den Thurmbau
leitete von 1480 an Matthäus Böblinger;
um 1500 Burkhard Engelberger.) Noch
einen weiteren Schritt in der Auflösung
des strengen Stils bezeichnet der Wiener
Stephansthurm, gegründet 1359, vollendet
1433. Er ist in unserem Kunstherbst die
in anmnthigster Fülle entfaltete Spätblüte,
welche durch ihre glänzende Pracht jedes
Auge entzückt, wenn auch der jugendfrische
Dust fehlt und das lose Gefüge ihres
Blätterwerks den Verfall anzeigt. — In
Straßburg weht der Wind über die Stoppeln,
so bald Johannes, des großen Erwin Sohn
und Nachfolger, die Augen geschloffen (um
1339). Ist der bedauerliche Lückenbüßer
zwischen den beiden Thürmen an sich noch
ein tüchtiges Werk: weiter hinauf erstirbt
die wahre Kunst mehr und mehr und
räumt der bloßen technischen Meisterschaft
und der eitlen Künstelei das Feld. Alles
Leben ist eingeschneit, vereist, bis schließ-
lich der Strunk von Pyramide ähnlich
einem winterlich verdorrten, ruinösen Baum
malerisch sich in die Lüste reckt!

So führen uns die fünf Riesenthürme
alle Phasen der Entwicklung deutscher Gothik
von ihrer ersten Vollblüte an vor Augen;
es sind dies die Phasen irdischen Werdens
und Vergehens überhaupt: die Kraft und
Lebhaftigkeit der Jugend, die Reife der
Mannheit, das Sinken des Greisenalters.
Die ganze Stnfenreihe durchläuft schon für
sich allein der Riesen-Torso von Straß-
burg: die verschwenderische Fülle des Lebens;
die Höhe abgerundeter Vollendung; äußer-
licher Fortschritt bei innerlich nachlassender
Kraft; Abnahme des Geschmacks — Will-
kür — Verkünstelung — Erstarrung! —
Aber das Leben in all diesen steinernen

Wundern — so lang noch Leben sich regt
— der succuZ ei sanguis in ihnen und
besonders auch in Erwins unsterblichem
Werk ist deutsch. Verleugnet letzteres
auch das Vorbild nordfranzösischer Kathe-
dralen nicht, es hat sie weit hinter sich
gelassen. Durch wahrhaft schöpferische Durch-
bildung des dort nur im Keime Gegebenen
ist es ein urwüchsig deutsches Meisterwerk;
und durch die vollkommene Abklärung der
mannigfachen dort noch gährenden Elemente
und durch den gelungenen Zusammenschluß
der tausend und tausend Einzelheiten zu
einer wahrhaft einzigen Gesammtwirkung
steht es ans derjenigen Stufe der Voll-
kommenheit, welche zu erklimmen nur der
deutschen Gothik gegeben war, der jüngeren
Schwester der sranzösischen oder, wie wir
nach den neuesten Forschungen richtiger
sagen, ihrer lebenskräftigsten Tochter.

Die Vorzüge dieser Thürme liegen,
wenn wir mit Görres reden wollen, im
extensiv Mathematischen, d. h. in der
großartigen Verbindung gewaltiger Formen
mit edlen Verhältnissen; im intensiv Gene-
tischen, d. h. in der vom Größten zum
Kleinsten hinab und vom Einfachsten zum
Zusammengesetztesten hinauf in regelmä-
ßiger Progression fortschreitenden Gliede-
rung; endlich in der Fülle und Vollen-
dung des Details, ob es als Zierde die
leichteren krönenden Theile umspielt oder
als Bildwerk sich namentlich am Portal-
bau an: glänzendsten entfaltet. So zeigt
in Köln das Portalgeschoß die reichste,
ja zarteste Gliederung und die Straß-
burger Vorderseite verdankt der verschwen-
derischen und dabei wohl durchdachten
Ausschmückung mit Statuen und Reliefs
ihre außerordentlich einheitliche und präch-
tige Wirkung. (Vergleiche Bode, deutsche
Plast. S. 80.) Auch in Wien ist die
Thnrmhalle mit zierlich überdachten Nischen
ausgestattet (für welche aber gerade die
größten Statuen fehlen) und in Ulm ent-
faltet sich in- ititb außerhalb der in drei
mächtigen verzierten Bögen sich öffnenden
äußeren Vorhalle eine ganze biblische unb
Heiligengeschichte in Stein. Ob es aber
auf den Höhepunkten des Gebäudes keimt
und sproßt, oder gleich in den untern
Theilen den Besucher mit fast überreicher
Pracht empfängt: nichts ist bloß äußer-
lich-willkürliches Beiwerk, nichts bean-
 
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