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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 7.1889

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Nr. 7
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Keppler, Eugen: Deutschlands Riesenthürme, [8]
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68

und Lebendigkeit, Regel und Natürlichkeit
finden wir an Erwin's Werk noch andere
wenigstens scheinbare mit einander versöhnt
und in Harmonie aufgelöst, so: Ordnung
und Mannigfaltigkeit; Einfachheit und Reich-
thnm. Sie sind nur sch ein bar einander
feindlich, diese Eigenschaften. Was sie
ausschließen ist das Verworrene, das Ver-
wickelte; was sie beide vermeiden müssen,
ist: jede Uebertreibnng, die zu einer er-
müdenden Einförmigkeit führen müßte.
E i n f a ch und übersichtlich, wie wir
gesehen, sind alle Verhältnisse an dem
mustergültigen Theile der Straßburger
Fassade geordnet. Sie ist in wagrechter
sowie in senkrechter Richtung eingetheitt
und gegliedert. Die Stützen lausen von
unten bis oben durch, indem die Gallerien
meist vorspringend und dann wieder zn-
rücktretend, sich um dieselben hernmlegen.
Der ganze Gliederban ist so fest gefügt,
daß jeder Theil den Eindruck des unbe-
dingt Nothwendigen unb Natürlichen zn-
rückläßt. Aber zugleich welche A b w e ch s-
l n ng, welche Fülle! Die Durchbrech-
ungen der Thürme zeigen die verschiedenste
Form: das Rnno; weite spitzbogige Fenster
im zweiten; schlanke schmale Fensterösf-
nungen im dritten Thurmgeschoß. Neben
den einfacheren Wimbergen der beiden
Seitenthore der reich durchbrochene zwei-
fache Prnnkgiebel des Hauptportals. Dazu
dieses einzige System der Verzierung in
bald schlicht geradlinigen, bald reich durch-
brochenen Bildungen: alles gleich weit
entfernt von Eintönigkeit, von Trockenheit
wie von Unklarheit und Verwirrung. Wahr-
lich es ist kein Zufall, daß gerade die
Straßburger Fassade die verkannte Gothik
wieder zu Ehren brachte. Dem jungen
Göthe erschien dieselbe wie eine Offen-
barung. Anstatt des „mißgeformten, kraus-
borstigen Ungeheuers" , vor dem ihm im
Gehen graute, fand er zu seiner lebhaften
Ueberraschung „einen ganzen großen Ein-
druck, der seine Seele füllte" : bei tausend
verschiedenen Einzelheiten doch die eine,
volle, schöne Harmonie, die er vordem nur
innerhalb der weisen Selbstbeschränknng
der einfachen Linien griechischer Baukunst
für möglich gehalten hatte: während man
umgekehrt von der Kölner Gothik wird
sagen dürfen, daß ihr endloses Formen-
spiel (in welchem, nach Kngler, „die in

der Gesammtorganisation des Baues ausge-
sprochene Belebung unablässig nachklingt")
es trotz der unvergleichlichen über das
Ganze ansgegossenen Harmonie zu
einem so ruhig-harmonischen Genießen nicht
kommen läßt. Der Kölner Fassade eben-
bürtig an Einheitlichkeit, an Ebenmaß, an
nnerschöpfter Lebensfülle, ist Erwins Mei-
sterwerk jener überlegen an mystischer
Tiefe, weihevoller Stimmung, an warm
pulsierendem Leben und poetischem Duft.
Im gefällig Schönen — dies ist der Be-
griff des „Eleganten", in welchen Burke
solche Gegenstände einbegreift, „die aus
weichen, glatten Elementen bestehen, ohne
daß solche sich drängen, sich reiben, oder
sich wechselseitig verwickeln und verwirren
und die zugleich eine gewisse Regelmäßig-
keit und Abrundung zeigen— im gefäl-
lig Sch öneu ist die Vorderseite unseres
Straßburger Münsters, soweit sie den ur-
sprünglichen Gedanken befolgt, die höchste
Leistung der deutschen Gothik; im geistig
Schönen überragt sie alles, was Men-
schenhand je geschaffen. Ja, diese Fassade
sie ist die durchgeistigteste — wie die
Kölner die durchdachteste und folgerichtigste
— von allen! Das hätten jene mehr be-
rücksichtigen sollen, welche, indem sie die
Abstreifung der Körperlichkeit, die aller-
dings das Hauptziel der entwickelten Go-
thik ist, fälschlich als identisch betrachteten
mit dem Kölner Höhenflug, in letzterem
das eigentliche Wesen der Gothik gefunden
zu haben meinten — während doch Kölns
Ueberlegenheit über Straßbnrg und alle
anderen Münster der Welt nicht in dem
Vertikalismns feines Stils und nicht in
feiner unaufhaltsamen Verjüngung, sondern
in der von unten bis oben gleichför-
migen Durchführung dieses Stils, in
der unübertrefflichen Einheit und Har-
monie seiner Gesammterscheinung liegt.

„Nur die dnrchgebildete volle Harmonie,
die schöne Einheit und durch Fremdartiges
ungetrübte Schöne des andern kann kano-
nisch sein," sagt Görres mit Recht von
dein Kölner Dom (a. a. O. S. 59). Daß
die Straßburger Thnrmanlage im Gan-
zen dieses nicht sein kann, daran tragen
nur die späteren Abweichungen von Erwins
Plan die Schuld, lieber der großen Rose,
gerade da, wo der Giebel frei anfragend
zwischen beiden Thürmen und mit einem
 
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