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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 7.1889

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Nr. 10
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Keppler, Eugen: Deutschlands Riesenthürme, [11]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15865#0098

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94

Ziffern kann er sie sich selber leicht: Non.
e dato alle cose mondäne il crescere
mai sempre o fermarsi, ma salire da
che son nate in sin al colmo e quindi
voltando scendere alla lor morte. —-
Eine Banart läßt sich ebensowenig künst-
lich ans dem Höhepunkt ihrer Entwicklung
festhalten, als eine Sprache. Wie nahe
ist dem Gipfel der Abstieg! Nachdem im
Kölner Himmelanstreben das Facit aller
Gothik gezogen war, mußte eine rücklänfige
Bewegung eintreten. Vom Künstlichen
zum Gekünstelten, vom Effektvollen zur
Effekthascherei, aber auch von der streng-
sten Gesetzmäßigkeit zur flüssigeren Hand-
habung der Form ist nur ein Schritt.
Auch ist es so der Lauf der Welt, daß
der Geist, durch seinen Sieg stolz gemacht,
anfängt, seine Herrschaft zu mißbrauchen!

Und doch trifft letzterer Tadel unfern
Meister Böblinger nicht eigentlich. Sein
Thurm zeichnet sich durch eine für diese
Spätzeit sehr bemerkenswerthe konstruk-
tive Strenge und Einheit ans. Die
Massenverhältnisse desselben sind sehr schön,
seine Haupttheile wohl charakterisirt: Vor-
züge, die sogar über die nicht ganz befrie-
digende Entwicklung des viereckigen in den
achteckigen Bau hinwegsehen lassen. Mit
dem Münster ist er, wie schon Eingangs
bemerkt, gelungener in Verbindung gesetzt
als irgend einer seiner Genossen, den Köl-
ner natürlich ausgenommen. Ich gestehe,
daß ich eine hierher gehörige Bemerkung
Kallenbachs so wenig verstehe als seine Be-
mängelung der Vorhalle. Er sagt vom
Ulmer Thurm: „In seinem untersten Theile
ist er nicht vollständig genug von der
Masse der Kirche gesondert; er wächst
vielmehr mit Ausnahme der westlichen
Strebepfeiler aus dem Körper der Kirche
heraus, was fehlerhaft ist der Aufgabe
gegenüber: mit einander verwachsen sein
und doch selbständig bleiben. Die Vor-
halle , an sich sehr schön und originell,
schließt nach oben mit ihrem Dach zu
horizontal ab, geht also mit der weiter
aufwärts steigenden Architektur nicht die
geringste scheinbare Verbindung ein." —
Warum sollte denn der Münsterthnrm
nicht mit seinem Münster verwachsen sein,
indem das Mittelschiff durch ihn hindurch-
geht, und warum sollte er nicht gleichwohl
durch die vorstehenden Streben von unten

auf charakterisirt sein? Und wie könnte
die Eingangshalle, die ja der Westwand
des Thurmes vorgelegt, übrigens sammt
ihrem Dach durch die sie einschließenden
Strebepfeiler hinlänglich in die Architektur
eingegliedert ist, wie könnte sie eine Ver-
bindung mit den hinter ihr anfsteigenden
Theilen eingehen und welcher andere Ab-
schluß derselben wäre denkbar außer dem
horizontal abschließenden, schräg zulaufen-
den Dach? Ferner wird niemand sagen,
daß die glänzenden, lebendig bewegten
Formen der Spätgothik den mächtigen
Gliederbau nicht herrlich kleiden; daß ins-
besondere die geistreiche freie Fortbildung
des Straßburger Systems der Verzierung
durch ein vorgelegtes Netzwerk von Lisenen
die Massen nicht glücklich vergeistige. Ein
gelungenes Verhältniß von konstruktiver
Gesetzmäßigkeit und ornamentaler Freiheit,
von monumentaler Kernhastigkeit und zier-
licher Leichtigkeit, von starren und sanften
Linien findet sich an diesem Bau. Der
monumentale Kern macht, daß die Zierat
nirgends ins Weichliche und Charakterlose
sich verliert. Die Zierat dagegen benimmt
dem monumentalen Kern das Drückende
und Schroffe, läßt aber sein markiges und
gediegenes Wesen, das überall hervorscheint,
unangetastet. So halten strenge, einfache
Größe und leichte, gefällige Erscheinung
hier einander die Wage.

Endlich wird niemand leugnen, daß uns
aus dieser Prachtfassade trotz aller späteren
Auswüchse doch ein jugendlich kräftiger
Geist anhaucht. Es ist die Macht des
freien Bürgerthnms, es ist die Blüte der
Städte, die noch einmal mit Anspannung
aller Kräfte die fliehende Kunst aufhalten
und die erschöpfte nöthigen, zu guter Letzt
noch ein epochemachendes Werk hervorzu-
bringen, zu Gottes Ehre und ein wenig
auch zu ihrer eigenen Ehre! Der besten
Zeit gothischen Schaffens möchten sie es
gleich thun, womöglich sogar zuvorthun;
sie möchten uns täuschen über den weit
vorgerückten Zeiger der Uhr, möchten uns
glauben machen, man stehe noch mitten in
der Zeit der Blüte — und es gelingt
ihnen. Von der gewaltigen Kraft des
Riesenbaues bezaubert, bemerken wir die
Anzeichen einer alternden Kunstepoche lange
nicht und erst die Kritiker, denen wir da-
für ernstlich gram sind, belehren uns, in-
 
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