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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 8.1890

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Nr. 7
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Keppler, Eugen: Zum Ausbau des Ulmer Münsters, [1]
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den größten Meister seiner Zeit, dein
Bürgermeister und Rathe zngeführt —
sie nahmen ihn 1392 ans fünf Jahre als
Kirchenmeister in Dienst — jedenfalls ist
der jetzige ins Kolossale gesteigerte Plan
sein Werk. Er war es nämlich, der als-
b^d das Langhaus in seinem ganzen Um-
fang in Angriff nahm, auch das erste
Stockwerk des Hanptthurms von Grund
ans zu einer ziemlichen Höhe hinanführte.
Da nun letzterer nach dem schon Gesagten
nur als Eines Geistes Kind begriffen
werden kann, so muß wohl Ulrich der
geistige Vater des Ganzen sein. Nun
stand aber seine Wiege nicht in Freibnrg
im Uechtland, sondern, wie jetzt kaum
mehr bezweifelt wird, in Ensingen, d. i.
in Einsingen bei Ulm; desgleichen sind
alle anderen, die nach ihm, eigener Meister-
schaft entsagend, sein Werk fortgesetzt,
Schwaben, wir haben also hier, sagen wir
es mit Stolz, eine nach Erfindung wie
Ausführung rein schwäbische Leistung vor
uns. Auch ihr Idiom, ihre besondere
Klangfarbe kennzeichnet sie als solche. Ist
nicht dieses Heranswachsen des Westlhnrmö
aus dem Körper der Kirche schwäbisch?
Ist nicht die zarte, biegsame Behandlnngs-
weise des Steinwerks, welche dem Ulmer
Thurm einen so eigenen Reiz verleiht,
gerade in Schwaben zur höchsten Blüthe
gediehen? — die Kunst, den Stein zu
gießen, nannte man sie hier in späterer
Zeit. Jedenfalls ist eine Spitzpyramide
wie die Ulmer, mit Fialenkränzen und
Galleriekrone, ein ausschließlich schwäbisches
Gewächs, wofür wir das klassische Beispiel
an dem Eßlinger Franenthnrm haben.
Da aber alles vorhandene Kunstgeschick
nichts nützt, wenn nickt zu rechter Stunde
der kühne Entschluß sich einstellt, und da
der Entschluß nur dann zur That reifen
kann, wenn ihm die Mittel zu Verfügung
stehen, so müssen wir, um uns das Zu-
standekommen des größten schwäbischen
Kunstwerks zu erklären, noch auf gewisse
Vorbedingungen Hinweisen, die sich nie
glücklicher znsammenfanden als eben da-
mals in der schwäbischen Reichsstadt. Es
sind dieses: die ans das höchste gesteigerte
Zuversicht ihrer freien Bürger; ein Unter-
nehmungsgeist, der vor dem Unabsehbaren
— räumlich und zeitlich Unabsehbaren
nicht zurückschreckt; ein hochherziger Ge-

meinsinn, der alle Kräfte zum hohen Ziel
verbindet; Reichthum, der die Mittel be-
sitzt; Opferwilligkeit, welche die Mittel
flüssig macht; Begeisterung, welche die
Opferwilligkeit wach erhält; endlich (tust,
not least) Glanbenswärme, aus welcher
die Begeisterung ihre Nahrung schöpft.
„Wie kommt es, daß wir heutzutage kein
solches Bauwerk mehr zu Stande bringen?"
So fragte einst ein Bekannter den un-
gläubigen Heine, und was antwortet dieser?
„Die Menschen in jener alten Zeit hatten
Ueberzeugungen, wir Neueren haben nur
Meinungen, und es gehört etwas mehr
als eine bloße Meinung dazu, um so
einen gothischen Dom aufzurichten."

Mehr als 900000 Gulden, die vielen
Beiträge Einzelner nicht eingerechnet,
wurden größtentheils von Ulmern selbst
für den Bau ihrer Pfarrkirche aufgebracht.
Man sieht, wenn dennoch bis zur Fertig-
stellung der Gewölbe, des Dachstuhls und
des Thurmvierecks 111 Jahre verflossen
und bis der Entwicklungsstufe des
Ganzen, ans welcher es noch um die Mitte
dieses Jahrhunderts stand, gar 117 Jahre,
so war Mangel an Opferwilligkeit nicht
daran schuld. Der Geist war willig, aber
der spröde Stoff beugte nur langsam sich
dem Gesetze des Geistes.

Faßten auch die Hauptpfeiler des Thurms
(bekanntlich Auswüchse der Langwände des
Mittelschiffes) schon unter Ulrich mächtig
Wurzel, und singen sie schon unter seinen
Händen an, das dreifache Riesenthor viel-
versprechend zu umrahmen: seinen Abschluß
fand das Portalgeschoß doch erst durch
seinen Nachfolger Hans Kun um 1430.
Und da von nun an der Thurm wegen
seiner organischen Verbindung mit den
übrigen Theilen gleichen Schritt halten
mußte, sehen wir ihn erst im Verlauf der
nächsten 40—50 Jahre unter der Pflege
dreier Meister: Kaspar Kun, Matthäus
Ensinger und Moriz Ensinger Schiffshöhe
erreichen. Freilich enthält diese Partie
auch den Brennpunkt des Ganzen, das
sog. Martinsfenster mit seiner ätherischen
Vergitterung und seinem sonstigen Zauber.
Wenn dieses Prachtstück jetzt noch, nach-
dem es längst Gemeingut geworden, in dem
Beschauer jene tiefe, wundersame Rührung
weckt, wie sie sonst von der Art nur noch
die große Rose der Straßburger Fassade
 
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