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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 9.1891

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Nr. 5
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Keppler, Eugen: Phantastische, scherz- und boshafte Gebilde mittelalterlicher Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15908#0050

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43

sie aus sehen. Kurz, wie diese Steinmetzen
die fruchtbarste, kühnste Phantasie ins
Reich der Natur hineintragen, so tragen
sie auf der andern Seite die Natur in die
jenseits des Wirklichen liegenden Räume
der Phantasie hinüber. Kein größeres
Vergnügen für einen Romantiker, als in
dieser Zauberwelt hernmzusteigen und der
steinernen Menagerie einen Besuch zu
machen, „unter Larven die einzig fühlende
Brust". Die Schauer des Davidischen
„ans Schlangen und Basilisken wirst du
wandeln und den Fuß setzen ans Löwen
und Drachen" werden einem da fühlbar!
Schaut man dann wieder von unten hinaus
und sucht sich über die Gesammtwirknng
dieser zahllosen Gebilde klar zu werden,
so kann man Schritt für Schritt nach-
rechnen und nachfühlen, wie sehr gerade
sie zur Vergeistigung und Verklärung des
Riesenbaues beitragen. Es ist, wie wenn
von ihrem überschänmenden Leben sich den
starren Massen etwas mittheile und dazu
gießt noch ein zweites Leben, das in ihnen
ist, das der Poesie, den Dust des Außer-
ordentlichen und Wunderbaren über das
gewaltige Ganze. Schon die romanischen
Kirchen würden durch Entfernung ihres
Bildwerks in ihrer Wirkung sehr geschädigt,
denn „die starren architektonischen Formen
wirken doppelt neben den vielgebrochenen
organischen Linien auch noch so derber
Thier-und Menschenleiber", sagt mit Recht
ein Beschreiber der Gmünder St. Johannes-
kirche. Die gothischen Steingebirge vol-
lends würden ohne diese leichteren Zn-
thaten uns gar erdrücken.

Der tiefere Grund aber, warum dieser
phantastische Schmuck für die Gesamt-
wirknng unserer gothischen Kirchen so
wichtig, liegt in seinem innigen Verwachsen-
sein mit den schwereren Bauformen, in
der Nothwendigkeit, mit der er ans diesen
heranswächst, in der Treue, womit er als
dienendes Glied überall an das Ganze sich
anschmiegt. Nirgends, sagt Viollet-Le-Duc
sehr lehrreich, verräth sich eines Künstlers
Gedankenarmnth deutlicher als in der
grund- und zwecklosen Anbringung der
Zierat. Das Stein- und Holzschnitz-
werk ist oft nur Nothbehels, um die
Lücken im Ausbau und den Mangel schöner
Verhältnisse zu verdecken. — Gewissenhaft
wie die Meister der Blüthezeil waren, be-

handelten sie auch das Zierwerk wie irgend
einen andern wesentlichen Bantheil.
Die Zierat war ihnen niemals ein
Mantel, um die Dürftigkeit und Fehler-
haftigkeit des Werkes zu verkleiden. Da
sie sich klar darüber waren, was sie aus-
sprechen wollten und da sie immer etwas
ansznsprechen hatten, brauchten sie nie nach
Floskeln und Gemeinplätzen zu greifen.
Oft ist das Ornament mit dem architek-
tonischen Gliederban so verwachsen, daß
man nicht weiß, wo die Arbeit des Stein-
metzen anshört und wo die des Bildhauers
anhebt. Bildner und Steinhaner gingen
so Hand in Hand, daß man keine Grenz-
linie zwischen ihrem beiderseitigen Schassen
ziehen kann. Die ornamentalen Znthaten
wurden alle ans ebener Erde vollendet und
nicht erst am Körper des Baues. Folg-
lich mußte der Meister die Wirkung jedes
Stü-ckeö am Anbringnngsort schon längst
v o r der Anbringung genau berechnet haben.
Dies Verfahren hatte das Gute, daß es
eine anziehende Vielseitigkeit in der Manier
hervorbrachte; daß es die sorgfältigste Aus-
arbeitung ermöglichte, da der Steinmetz
seinen Quader nach Belieben drehen konnte;
daß es die schreckliche Eintönigkeit der wie
mit der Maschine ausgeschnittenen Zier-
raten heutiger Fassaden nicht anfkommen
ließ. Jedem Arbeiter mußte daran liegen,
daß sein Stück schöner gearbeitet war als
die andern: und wirklich lassen sich an
vollendeten Werken der Gothik immer ein-
zelne Theile eines Frieses, eines Gesimses,
einzelne Kapitelle herausgreisen, die durch
besonders preiswürdige Anssührnng vor
den übrigen hervorragen. Am Bail selbst
durchschnitt nie eine Fuge oder Schichte
ungeschickt das Ornament; das war un-
möglich , weil jeder Stein vollendet war
vor seiner Einfügung. Nichts ist be-
friedigender als dieses vollkommene Jnein-
andergreisen zwischen dem Zierwerk itnb
den festen Theilen des Baues; nichts
macht mehr den Eindruck eines gereiften,
wohldnrchdachten Kunstwerkes.. Sieht man
z. B., wie die Kanten der Strebepfeiler
an der Westsassade von Notre-Dame ge-
gliedert siild: wie die großen Eckvorsprünge,
die Thierbilder des Kranzgesimses und des
fignrengekrönten Geländers darüber sich
mit der Architektur vermählen und eine
! kühne Umrißlinie werfen, dann möchte man
 
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