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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 9.1891

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Nr. 12
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Pfeifer, Franz Xaver: Ueber einige Maßverhältnisse des Münsters zu Ulm und seines Chorgestühles
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https://doi.org/10.11588/diglit.15908#0120

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110

mißt 1,82 m. Die Breite von der Mitte
eines begrenzenden Rnndstabes znr Mitte
des nächsten ist im Mittel 0,696. Diese
Breite stimmt mit der Formel 6 — L — M
bis ans eine Differenz von 2 mm überein,
denn die nach dieser Formel berechnete Breite
ist 0,694.

Aber and) im vertikalen Anfbau des Chor-
gestühles spielt der goldene Sd)nitt eine be-
deutsame Rolle.

Die Höhe des ganzen vertikalen Aufbaues
ist ein wenig versck)ieden, se nachdem man
entweder die Spitzen der kleinen Kreuzblumen
über den Baldachinen oder die Spitzen der
kleinen Fialen zwischen je zwei Baldachinen
und Kreuzblumen als Höhepunkte nimmt.
Im letztern Falle beträgt die ganze Höhe
4,75 m.

In dem vertikalen Aufbau des Chor-
gestühles und seiner Gliederung treten zu-
nächst drei Hanptpartieen, welche dnrä) ihren
Zweck und Schmuck sich unterscheiden, her-
vor. Die unterste Partie ist das Chorgestühl
im engeren Sinn, welches dem praktischen
Zwecke, einen bequemen Sitz- und Stehplatz
zu bieten, dient. Diese Partie gliedert sich
aber noch in zwei Abtheilnngen, wovon die
eine unter, die andere ober dem Sitzbrette
ist. Die nächstfolgende Partie ist ebenfalls
zweigliedrig, sie besteht ans jenen zwei über
einander liegenden rechteckigen Feldern, wo-
von schon die Rede war. Diese Partie ist
vorzugsweise znr Aufnahme plastischen
Schmuckes bestimmt. Die dritte und oberste
Partie ist ebenfalls zweigliedrig und besteht
aus gothisch-architekronischen Schmnckformen,
Baldachinen, Spitzgiebeln, Fialen und Kreuz-
blumen. Die Zweitheilnng dieser Partie ist
durch eine Art horizontallanfendcs Gesims,
über tvelches die Fialen und Kreuzblumen
sich erheben, hergestellt.

Wir haben also drei Hauptabtheilnngen,
wovon jede wieder in zwei Unterglieder sich
zerlegt.

Die Maßverhältnisse dieser vertikalen Glie-
derung zeigen nun bei genauerer Untersuch-
ung wieder eine auffallende Annäherung
an die Verhältnisse des goldenen Schnittes.
Die ganze Höhe bis znr Spitze der Fialen
beträgt, wie schon bemerkt, 4,75 m. Bei
der Theilung nach dem goldenen Schnitt
treffen auf den Major 2,93 m, und soviel
beträgt derjenige Theil des Chorgestühles,
der vom Boden bis zu den Ansatzpunkten
der Baldachine, Spitzbögen und Fialen reicht.
Die Höhe der letzteren entspricht dem Minor.
Die untere Partie ist nochmal sehr annähernd
int selben Verhältnisse gegliedert, indem die
Höhe der Chorstühle im engern Sinne, so-
>veit sie znm Sitzen und Stehen dienen, znr

Höhe der zwei darüber besindlichen Rechteck-
felder wieder wie Minor zu Major sich ver-
hält. Znni Abschluß des über das Chor-
gestühl Gesagten sei noch bemerkt, daß von
jenen drei Spitzthürmen, welche den Chor-
stnhl hinter dem Krenzaltar krönen, der mitt-
lere, in welchem die Gestalt des Heilands
steht, zu den zwar seitwärts stehenden nied-
rigeren wieder ziemlich genau wie Major zu
Minor sich verhält, denn das mittlere Thürm-
chen hat 14 Fuß 7 Zoll (württ.), jedes der
kleinen aber 9 Fuß Höhe.

Da jetzt der Hanptthurm ansgebaut und
das höchste von allen aus Stein aufge-
führten Bantverken der Erde ist, dürfte
es von einigem Interesse sein, die Maßver-
hältnisse dieses Baues noch in Betracht zu
ziehen.

Es ist jetzt ziemlich allgemein bekannt,
daß bei dein Ausbau des Münsterthnrmes
zu Ulm der alte Plan von Matthäus Böb-
linger in Bezug aus die Höhenverhältnisse
des Achteckes und der Pyramide nicht bei-
behalten wurde, denn nach Böblingers Plan
hätte das Oktogon eine Höhe von 35 m und
die Pyramide eine Höhe von 50, der ganze
Thurm aber eine Höhe von 155 ra erhalten.
Im gegenwärtig vollendeten Bau hat das
schon längst vollendete Viereck 70 m, das
Achteck 32, die Pyramide 59, der ganze
Thurm also 161 m. Abgesehen von der Ver-
änderung des Planes in Betreff der absoluten
Höhe, welche jetzt um 6 m die ursprünglich
projektirte Höhe übertrisst, ist es besonders
die Abänderung des Höhenverhältnisses des
Oktogons und der Pyramide, was eine be-
sondere Beachtung verdient. Der Architekt
und Professor Göller erzählt in seinem Buche
„Zur Aesthetik der Architektur", S. 33, in
Bezug auf jene Abänderung der Maßverhält-
nisse am Ulmer Thurm Folgendes: „Man
glaubte das Verhältniß zwischen der Höhe
der Pyramide und der des achtseitigen Thnrin-
geschosses ändern zu sollen, indem man der
Pyramide auf Kosten dieses Geschosses mehr
Höhe gab als nach dem Böblingerschen Plan,
der gerade in Beziehung auf dieses Verhält-
niß von den anderwärts zu findenden Maßen
der Thürme stark abweicht. Bei eineni Be-
such deutscher Architekten und Ingenieure in
Ulm bildeten sich sofort zwei Parteien, von
denen die eine der Aendernng zustiinmte oder
nichts dagegen einzuwenden hatte, die andere
aber entschieden eine Verminderung der ur-
sprünglichen Schönheit und Originalität des
Böblingerschen Planes darin zu sehen erklärte
und eine Aendernng nicht gerathen fand.
An der Spitze beider Parteien standen Au-
toritäten der Baukunst, Nicht einem der
Betheiligten schien es zweifelhaft zu sein,
 
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