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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 15.1897

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Nr. 9
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Keppler, Paul Wilhelm von: Der romanische Kirchenbau, [2]
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das ideale Streben nach Vergeistigung
der Materie, nicht das Sehnen nach dem
Himmel, nicht das Suchen nach einem
Baustil, welcher noch besser als der ro-
manische christliches Glauben und Streben
in Stein verkörpert vor Angen stellen
würde, hat den gothischen Stil ins Leben
gerufen und seine Struktur ersonnen, son-
dern zunächst lediglich die Technik, tvelche
die Spitzbogenwölbnng erfand, ans der
die ganze gothische Konstruktion sich von
selbst ergab; imb die Frühgothik wurde
zur Hochgothik gezeitigt nicht durch ideale
Mächte, welche zum Zweck noch wirk-
samerer Dnrchgeistignng und Durchlichtung
die Auflösung der Zwischenmauern in
Niesenfenster verlangt hätten, sondern
hauptsächlich durch das Aufblühen der Kunst
der Glasmalerei, tvelche für ihr Schassen
große Felder verlangte.

Das Vorstehende sollte uns über den
Verdacht erheben, als trollten wir der
Gothik auch tinr einen Titel ihres ver-
dieitten Nnhtnes streitig uiachen oder als
wären wir für ihre Vollkonunenheiten blind.
Aber mit deren Anerkennung scheint uns
allerdings die Frage tioch durchaus nicht
abgethan, ob es tiicht erlaubt und wün-
schenswert sei, tiebeti dem gothischen auch
den romattischen Baustil zu kultivieren.
Die Argumentation: der gothische Stil ist
der vollkommene, ergo auch der allein be-
rechtigte, welche tvir oben durch Reichen-
sperger ntid Prill vertretet! fanden, scheint
siegreich und nnwidersprechlich. Sie er-
innert aber an eine andere analoge, von
gleicher Folgerichtigkeit und von gleicher
— Unrichtigkeit.

Der Heiland selbst hat uns das Vater-
unser gelehrt, das christliche Gebet. Da
tvaren es die Bogomilen im 12. und die
Puritaner hu 16. Jahrhundert, tvelche so
folgerten: hat Christus selbst uns ein
Gebet gelehrt, so ist dies das vollkotnmene
Gebet; ist das Vaterunser das vollkommene
Gebet, so ist es auch das allein berechtigte
und erlaubte, denn es wäre vermessen,
widersinnig und „unlogisch", wollte mau
sich nnvollkounnener Gebete bedienen,
während uns doch ein vollkommenes ge-
geben ist; es wäre Wahnsinn zu meinen,
man könne selber bessere und Gott wohl-
gefälligere Gebete ersinnen, als das, welches
Gottes Sohn uns gelehrt hat. Die Be-

weisführung läuft der obigen parallel, ja
sie scheint noch unanfechtbarer, als sie,
weil auf das Vaterunser das Prädikat
vollkommen wirklich im absoluten Sinne
anwendbar ist, ans die Gothik, wie auf
alle Menscheuwerke bloß im relativen.
Im Vaterunser hat uns in der That der
Heiland selbst den vollkommenen Gebets-
dom von wunderbarer und unübertrefflicher
Architektur gebaut. Gleichwohl hat die
Kirche von Anfang an sich selbst und
ihren Kindern das Recht vindicirt, sich
eigene Gebetskirchlein neben diesen Dom
oder in denselben hinein oder an den-
selben anzubauen, und sie sieht jene
Konsequenz als unberechtigt und häre-
tisch an. Das Warum ist hier nicht
weiter zu erörtern. Im Verhalten der
Kirche verräth sich ein Tiesblick in das
Wesen des Gebetes, und von jener zu
weit gehenden Folgerung hielt sie ab die
Nespektiernng der Freiheit des einzelnen
und die Anerkennung des Bedürfnisses
nach Abwechslung und Mannigfaltigkeit
aus diesem Gebiet lebenslanger und täg-
licher religiöser Bethätiguug.

Sollte ans dem Gebiet der Kunst eine
ähnliche Rücksichtnahme a limine abzu-
weisen sein? Oder wäre der gothische
Stil wirklich in dem Maße der kirchliche
und vollkommene, daß ihm das unbedingte
Monopol des Kirchenbanes zuerkannt wer-
den müßte und die Verwendung eines
anderen neben ihm so lächerlich und thö-
richt wäre, wie wenn matt jetzt noch eine
Dampfmaschine nach Wattschem System
konstrniren oder die ersten Spindeluhren
wieder einführen wollte? Ist der ro-
manische Stil durch den gothischen so sehr
abgethan, daß er höchstens noch historische
Duldung und Werthnng beanspruchen,
aber beim heutigen Kirchenban kein Wort
mehr mitreden könnte und dürfte? Das
ist nach wie vor die Frage.

Man verweist uns nun auf die großen
Baumeister, welche einstens im romanischen
Stil gearbeitet, aber alsbald nach Cr-
scheinen der Gothik sich dieser zngewandt
hätten. Ob nicht ihr Verhalten Beweis genug
sei, daß nach und neben der Gothik der
romanische Stil einfach unmöglich ge-
worden ? ob mau etwa das eigene Urtheil
gegen das kompetente Urtheil jener Meister
stellen wolle, welche doch sicher den roma-
 
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