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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 21.1903

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Nr. 8
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Schermann, Max: Wanderungen durch einige Kathedralen Nordfrankreichs, [3]
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81

ersten Etage, das Triforium und die hohen
Fenster von einem größten Künstler, und
man weiß in der Tat nicht, wen man mehr
bewundern soll, den Meister, der den Plan
gemacht, oder den, der diese schönen For-
men in eine so großartige Erscheinung ge-
rufen hat. Wie herrlich dieses Portal
St. Honore am Südarm des Transepts,
dessen Vierge eine der schönsten jener
lächelnden Figuren ist, welche die Skulptur
des Mittelalters hervorgebracht hat! Auch
diese Portale haben ihre Ikonographie in
reichem Maße erhalten, wie die von Reims
und Paris; eine diskrete Restauration hat
ihnen ihren alten Glanz wiedergegebeu.

Anfsälligerweise ist von irgend einem
reichen Turmbau abgesehen. Rur über
den vier Pfeilern der mittleren Vierung
war ein eigentlicher Turm errichtet, der
1527 vom Blitz zerstört und 1529 durch
einen leichten, schlank aufschießenden Turm
ersetzt wurde. Dem Qnerschiffe fehlen die
Türme gänzlich. Die Westfassade hat zwei
Türme von mäßiger Höhe; es scheint,
daß auch hier die Emporführuug von
Türmen ursprünglich nicht beabsichtigt war,
da die Fassade wohl einen in sich abge-
schlossenen Vorbau bilden sollte. Viollet-le-
Dnc ') sagt, daß die Anordnung der zwei
reichgeschmückten Arkadengalerien, welche
über den Portalen durchlaufen, die hori-
zontale Schichtung und eine vorherrschend
dekorative Absicht so entschieden hervor-
treteu lasse, daß es glaublich sei, man habe
auch oberwärts das Ganze in ähnlicher
Weise krönen wollen.

Nicht geringer ist der Eindruck, den das
Innere dieses Niesenbanwerks auf den
Beschauer macht. Unvergleichlich erhaben
und kühn, entzückend leicht, klar und durch-
sichtig ! Das System ist im ganzen durch-
aus harmonisch, im wesentlichen ans einem
Guß, wenngleich mit einigen Variationen,
welche die Bildung der Triforien und der
Fenster betreffen. Für den gewaltigen Ein-
druck sprechen schon die Maße; der Plan
bedeckt eine Fläche von ca. 8000 Quadrat-
metern und wird hierin nur von Sankt
Peter in Rom, der Sophienkirche in Kon-
stantinopel und dem Kölner Dom über-
troffen, in der Höhe von 50,5 Metern
nur von Köln und Beauvais.

>) 2t. a. O. S. II. 320.

Das Schiff von Amiens ist unter dem
doppelten Gesichtspunkt der Technik und
Ausführung, der Wissenschaft und Kunst
das Meisterwerk der Gotik. Solidität der
Struktur, Klarheit des Planes, Harmonie
der Proportionen und Eleganz der Formen,
alles findet sich vereinigt in dieser Kunst-
schöpfnng, um daraus, wie die Engländer
sagen, ,,thc crowning glory“ der goti-
schen Architektur zu machen. Wie herrlich
flntet das Licht in alle Teile! Es hüllt
gewissermaßen diesen weißen Stein mit
seinen transparenten Wellen ein. Das
rührt wohl zum Teil daher, daß die Tri-
forien im Chor und in der östlichen Kreuz-
wand völlig als Fenster ansgebildet sind.
Dazu geben die Glasgemälde eine herr-
liche Wirkung. Im Langhaus haben die
Fenster vollkommen durchgebildete Gliede-
rung in vierteiliger Anlage; im Chor sind
sie sechsteilig und zeigen das reichere Maß-
werk der späteren Zeit.

So hat es also nichts Auffallendes mehr,
wenn L. Gonse *) in seinem trefflichen Werk
den Dom von Amiens das Pantheon der
französischen Gotik, die beiden Architekten
Robert de Lnzarches und Thomas de Cor-
mont ihren Phidias und Jktinns nennt.
Was soll mau noch von all' den Knnst-
schätzen sagen, welche die ehrwürdige Kathe-
drale schmücken und aus ihr eines der
kostbarsten Museen der Kunst in Frank-
reich machen? Es mag in dieser kurzen
Beschreibung genügen, die wunderbaren
Bronzegräber von Evrard deFoinlloy(1223)
und Geoffroy d'Eu (1236), den beiden
Veranlassern des Baues, zu nennen, das
wunderbare Chorgestühl, ein unbestrittenes
Meisterwerk der Holzsknlptnr, oder die
alten Mauergemälde vom Ende des
15. Jahrhunderts, die delikate Kapelle der
Makkabäer aus dem 14. Jahrhundert im
Süden der Apsis, die jetzige Sakristei.

Rur über die Bild hau er arbeiten
mögen noch einige Bemerkungen angefügt
sein. Wir finden hier, ähnlich wie in
Chartres, ein ikonographisches Ensemble
von Porträts und Figuren, und zwar wohl
die besterhaltenen von allen gotischen Monu-
menten. Man kann die schönsten dieser
Sujets answählen und sie ohne Bedenken

>J 21. n. O. S. 205.
 
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