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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 23.1905

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Nr. 11
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Reiter, Joseph: Der spätgotische Flügelaltar in der Stadtkirche zu Horb
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102

sind die Flucht nach Aegypten und die
Aufopferung Jesu im Tempel in erhabener
Arbeit zur Darstellung gebracht. Der Ge-
sichtsauSdrnck ist bei sämtlichen Figuren
hübsch und erinnert mehrfach wieder an
alte Motive. Das Obergewand bei Si-
meon dürfte nach unserer Auffassung
weniger geknittert und mehr fließend sein.
Werden die Flügel geschlossen, so erscheinen
an deni Altar zwei Strebepfeiler, ans den
Flügeln selbst tritt uns die Seene ent-
gegen, ivo Jesus nach seiner Auferstehung
seiner Mutter erscheint. Die Figuren,
ebenfalls altdeutsch gehalten, sind von
Bildhauer Klink (Atelier Hausch) gemalt,
während oben an den Flügeln Jonas und
Samson in brauner Farbe ausgezeichnet
sind. Im Hintergründe von Jesus und
Maria erblickt man die Stadt Horb.

Der Mittelschrein, welcher die Haupt-
gruppe des Altars enthält, ist ziemlich
tief; seine Rückwand ist mit Maßwerk
und sein Gewölbe mit Rippen belebt.
Außen an dem Schrein winden sich ans
beiden Seiten zahlreiche Passionsblumen
empor, überaus feine Schnitzereien, welche
mit staunenswertem Weiße ausgeführt sind.
Unter ihnen das Vesperbild, an welchem
man sich nicht satt sehen kann. Der
heilige Fronleichnam ruht ans dem Schoße
Mariens, und man merkt es wohl, daß
auf naturgetreue Wiedergabe des Körpers
viel Gewicht gelegt worden ist. Die sonst
öfters angebrachten Totenflecken fehlen.
Der Mund Jesu ist geöffnet, das Haupt
trägt eine große Dornenkrone, das Antlitz
zeigt nichts Wildes oder Verzerrtes, son-
dern Milde und Ruhe. Maria, deren
Haupt und Kinn verschleiert, führt die
linke Hand ihres göttlichen Kindes voll
Zärtlichkeit an ihre linke Wange; ihr
ganzes Wesen verrät das seelische Em-
pfinden der Mutter, und wir vernehmen
hier die alte Marienklage, welche anhebt:
„Wer Mntterlieb verstehen kann." Rechts
von Maria kniet die hl. Magdalena, welche
zum Zeichen ihrer Trauer ein Tuch hält,
während links Johannes mit die Hände faltet
und sich etwas über die Achsel Mariens
zu Christus herüberbengt. Vergleicht man
diese Darstellung anderen Darstellungen
des gleichen Sujets, namentlich aus früherer
Zeit, so fühlt man alsbald einen großen
Unterschied heraus: dort mehr heiliger

Schauer und Anbetung, hier mehr Mit-
leid, mehr zärtliche Teilnahme, das Ganze
mehr durchdrungen von einem gewissen
Humanismus. Angenehm wirkt bei unserem
Bilde auch die Symmetrie der Kompo-
sition. Wie bei „Maria im Rosenhag"
die Mutter mit dem Knäblein im Aufbau
eine ausgeprägte Pyramide bildet, ähnlich
bilden bei unserer Pieta (Maria im
Passionsblumenhag) Linien von Maria und
dem heiligen Fronleichnam ein ausge-
prägtes, fast gleichseitiges Dreieck (Ver-
bindungspnnkte die Stirne Marias —
sowie der rechte Arm und die Füße Jesu).

Mit Rücksicht darauf, daß der Flügel-
nltar in der heiligen Karwoche benützt
wird, wobei das Sanktissimum vor dem-
selben zur Aufstellung gelangt, möchten
wir noch eine eucharistische Bemerkung an-
schließen. P. Frederick William Faber
weist in seinem Buche „Der Fuß des
Kreuzes" ans die Eigentümlichkeiten des
sechsten Schmerzes Mariä (Vesperbild) hin
und hebt hervor: „Der Schmerz der
Muttergottes umgibt uns beständig mit
Bildern der heiligen Kindheit Jesu und
deS heiligen Sakraments. Die Passion
scheint ans den Augen zu verschwinden,
wie wenn sie nur der Grundstein wäre;
der Oberbau ist ganz mit Symbolen von
Bethlehem und dem Altäre ausgeschmückt.
ES ist kaum eine Handlung oder Stellung
Marias in dem ganzen Schmerze, die uns
nicht sogleich entweder an die alten Tage
der Mutter und des Kindes oder die
kommenden Tage des Priesters und der
heiligen Hostie in das Gedächtnis ruft.
Wenn sie dakniet (mehr griechische Auf-
fassung), um den Leib zn empfangen und
mit ihm in den Armen knieeu bleibt, da-
mit andere anbeten, wenn sie ihn bedient
und mit zarter Ehrfurcht behandelt, wenn
die Sorge und Verantwortlichkeit für des
Herrn Leib die Angst ihres Herzens ist
und ihr Kummer ans der Furcht vor
Entheiligung entspringt, dann können wir
nicht umhin, uns beständig das heilige
Sakrament vorznstellen. Ihr äußeres Be-
nehmen erscheint gleichsam als das Muster,
nach welchem die Kirche ihre Rubriken für
die Messe, den Segen oder die Prozession
entworfen hat. Ihr innerer Charakter
erscheint als Ideal jener inneren Stim-
mungen, welche guten Priestern eigen sein
 
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