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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 24.1906

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Nr. 10
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Atz, Karl: Die Jagd des sagenhaften Einhorns als Sinnbild der Menschwerdung
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https://doi.org/10.11588/diglit.15939#0106

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angesehen werden soll. Gott Vater hält
ein Spruchband in der Hand mit den
Worten: „Vox turtura audita est in
terra nostra“ (der Nnf der Turteltaube
ist in unserem Lande gehört worden).
Mit diesen Worten ladet der Bräutigam
im Hohenliede seine Braut zur Hochzeits-
feier ein, da dies die Zeit der Erfüllung sei-
nes Versprechens ist. Als der Sohn Gottes
Mensch wurde, war auch die Zeit der
Erfüllung der Verheißungen, die Fülle
der Zeit, die innigste Vereinigung des
Sohnes Gottes mit der menschlichen Natur
gekommen. Auf dem Spruchband des
Sohnes ist nichts 31t lesen; war es stets
leer? Ließ es der Maler absichtlich leer?

Der untere Teil des Gemäldes zeigt
den glücklichen Ausgang der Jagd. Von
dem Jäger und seinen Hunden hat sich
das Einhorn, der Sohn Gottes, in den
„lrortus conclusus" (den verschlossenen
Garten) geflüchtet und zwar ist es durch
die „Porta clausa“ (das verschlossene
Tor) eingetreten, und ruht bereits auf
dem Schoße des unschuldigen Mägdleins,
der allerseligsten Jungfrau Maria. Wir
erblicken einen mit festen Mallern um-
gebenen und von Türmen beschützten
Garten. Dieser sorgfältig gesicherte Gar-
ten ist ein Sinnbild der seligsten Jungfrau,
dem Hohenliede entnommen: Ein ver-
schlossener Garten ist meine Schwester
Braut (4,12). Wie ein so geschützter Garten
gegen alle Verwüstungeil von Menschen
und Tieren verwahrt ist, so auch die
Braut im Hohenliede oder Maria gegen
alle schädlichen Einflüsse der Sünde und
dafür voll der Tugenden wie der schönste
Garten angefüllt mit Vlilmen. Solche hat
der Maler um Maria herum in Hülle und
Fülle ailf unserem Bilde angebracht. An den
Tortürmen verkünden Inschriften, was sie zu
bedeuten haben. So heißt das Tor unten
links: „Porta coeli“ (die Himmelspforte),
mit anzudeuteu, daß durch Maria der
Himmel geöffnet wurde. Jenes unten
rechts heißt: „Porta aurea“ (goldenes
Tor), welches sich sowohl auf die persön-
liche Herrlichkeit als auch auf den Segen
Mariens für die Menschheit bezieht.
Oben links erhebt sich die bereits ge-
nannte „Porta clausa“ und höher oben
steht ein fünfstöckiger mächtiger Turm
und rechts davon ein ähnliches Gebäude,

beide ohne Inschrift, vielleicht der Turm
Davids, der elfenbeinerne Turm. Dhnt
wollen wir uns das Hanptbild iin schö-
nen Garten näher ansehen. Das blen-
dend weiße Einhorn (der Herr Gott
Israels), hat ohne Scheu seine Vorder-
süße aus den Schoß Mariens gelegt, diese
dieselben mit der Linken und mit der
Rechten das stattliche Horn erfaßt und
an die Brust gelegt. Das Einhorn hat
die Gestalt eines kleinen Pferdes, ans
dessen Stirne ein gewundenes gerades
Horn hervorwächst. Maria sitzt ans blu-
migem Rasen, in weißem grün gegürtetem
Kleide und blauem Mantel mit goldener
Verbrämung, der sich weit ansbreitet.
Das kräftige Haar fließt in reichen Locken
über die Schultern weit hinab. Seit-
wärts vom Kopfe ist ein Spruchband an-
gebracht und enthält die Worte: „Ecce
ancilla domini, fiat mihi secundum
verbum tuum“, als kurze, aber treffende
Erklärung der Situation. In der Rich-
tung von Gott Vater nach der seligsten
Jnngfran schwebt die Gestalt eines klei-
nen Kindes, Sinnbild der Seele des
menschgewordenen Sohnes Gottes, wel-
chem Bilde wir in vielen mittelalterlichen
Gemälden auch in Tirol begegnen. Das
Kindlein trägt ein Kreuz.

Auch ein paar alttestamentliche Vor-
bilder fügte der Maler bei, um die über-
natürliche Empfängnis des Sohnes Gottes
und die unverletzte Jungfräulichkeit Ma-
riens anzudeuten. So stellte er oben
rechts im Garten die „Bundeslade" dar
mit der Inschrift: „Virga Aron“ (Ritte
Aarons); wie nämlicb diese Rute in dein
hl. Zelte zu grünen anfing und Blüten
zu treiben, ohne daß sie Wurzeln hatte
und bewässert wurde, so ist auch der Sohn
Gottes seiner menschlichen Natur nach ans
wunderbare Weise im Schoße Mariens
ins Dasein getreten. Rechts unten im
Garten sieht man einen kleinen viereckigen
Bau mit ppramidalem Dache mit beige-
fügterInschrift: „Areha (area) Gedeon“
(Tenne Gedeons). Von Gedeon berichtet
das Buch der Richter 6, 36—40, daß er
sich als Zeichen seiner Sendung zum Füh-
rer Israels eine Andeutung vom Himmel
erbeten habe, indem er sprach: „Ich will
dieses Wollenvlies ans die Tenne legen;

! wird an diesem Vliese allein Tan sein und
 
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