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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 37-39.1919/​21

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Nr. 3 (1920/21)
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König: Die neue Kunst, [1]: ein Beitrag zum Verständnis moderner Kunstbestrebungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.22108#0126

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war ein gewisser Subjektivismus, ein
ewiges Vorurteil, in die Kunstgeschichte
hineingekommen; auch damit räumte
Riegl aus. Die in Künstlerkreisen selbst-
verständliche Ansicht, daß es in der Kunst
keinen Haltepunkt gibt, brachte Riegl
auch in die Kunstwissenschaft herein.
Darnach sind auch „böse Zeiten" in der
Kunstgeschichte unabwendbar, „der natur-
notwendige Ausdruck eines Schicksals."

Auf ein „zweckbewußtes Kunstwollen"
müssen wir auch die Produkte des Erpres-
sionismus zurückführen. Seine Welt ist
die Welt der inneren Vorstellungen;
wie diese körperlich aussieht, läßt sich
nicht klar bestimmen. Wer wollte auch
wagen zu umreißen, was aus dem In-
nern zahlloser Menschen zu ersprießen
vermag. Sicher ist nur, daß „das
Neue" nicht gebunden ist an die Gesetze
von Raum und Zeit.. Eine Vorstellungs-
welt hat jeder normale Mensch; es ver-
sagt vielfach nur die Selbständigkeit der-
selben, die sich und andern Rechenschaft
gibt über ihre Beschaffenheit: Das eben
will der Expressionismus.

Trotz alledem kann auch der Expressio-
nist, und wenn sein künsterisches Fühlen
und Wollen noch so ausschließlich in see-
lischen Empfindungen aufgeht, auf kör-
perliche Ausdrucksmittel nicht ganz ver-
zichten. Das kann allenfalls der Musi-
ker, der Expressionist in der bildenden
Kunst aber kann aus der Sphäre des
Geistes nicht heraustreten, ohne seine
Empfindungen zu „materialisieren," die
Mittel dazu sind Linie, Form, Rhythmus.
Zur Verstärkung dieser Ausdrucksele-
mente dient die Farbe. Die Linie, die
„Kontur", ist die Trägerin von Form und
Rhythmus; sie verleiht beiden Schwung-
kraft und man kann in gewissem
Sinn auch von Melodie sprechen (Hod-
ler). Die Linie ist es im Expressionis-
mus vorab, die dem lesenden Auge das
innere Erlebnis dessen vermittelt, der
sie mit „feinnervigster Hand" zeichnet.
Die Linie bildet die Form, „sie gibt den
Takt durch das Aus und Ab ihrer
Kurven, sie zieht in die Länge, sie
überstürzt sich haschend und packend; sie
kriecht und schleppt sich mühsam dahin,
sie bäumt sich wild auf, sie strebt in
endlose Höhen, sie stürzt hernieder und
liegt tot da". So erzählt seelenvoll die

Linie vom seelenvollen Künstler, von
Jubel und Schmerz, von kraftstrotzendem
Wollen, von resignierter Ruhe. — Dem
Linearen in der Kunst steht gegenüber
das Malerische. Bald herrschte mehr die
eine Tendenz vor, bald die andere. Man
kann dieser Erscheinung nachgehen in
der Kunstgeschichte aller Zeiten. Den
Impressionismus z. B. bezeichnen wir
als eine Periode des malerischen Ideals.
Mit dem Expressionismus beginnt eine
lineare Periode. Es ist nun von gro-
ßem Interesse, die Perioden der Ver-
gangenheit, in denen das lineare Prin-
zip regierte, zu prüfen auf etwaige
Parallelen mit dem modernen Expressio-
nismus.

Es folgen einige typische Beispiele.
Die alte Kölner Malerschule, besonders
in ihrer ersten Periode, Ende des 14.
und Anfang des 15. Jahrhunderts,
zeigt auffallende Verwandtschaften mit
den Bestrebungen moderner Expressio-
nisten. Wir finden in jener Zeit des
Mittelalters einen auffallenden Hang
zur Mystik. Was Suso und Tauler in
Worten ausdrückten, suchte man in der
Kunst im Linienspiel zu erreichen, selbst
auf Kosten der Natur, der Anatomie,
llm die in der Linie fixierte „transzen-
dente Idee" zu erreichen, vergewaltigte
man das Körperlich-Natürliche. Man
kann geradezu sprechen von Linienmystik.
Das Anormale in der damaligen Kunst
geschah also bewußt und gewollt und
man würde die damalige Tendenz ver-
kennen, wollte man dem Künstler feh-
lende Natürlichkeit und mangelnde ana-
tomische Kenntnisse vorwerfen. Tie
Linie war „getränkt mit religiös-mysti-
schem Empfinden." Auf diese Weise
entstanden jene Heili gen gestalten:
„schlank über die Maßen, ohne Schul-
tern und schmalbrüstig; die Finger sein
und überlang; das Haupt leise gesenkt,
ohne Physiognomie, zart oval; feine
Strichlein markieren die tiefen Augen-
lider und den zarten Mund." Dieselben
Erscheinungen zeigen sich auch in der
Bildhauerei der damaligen Periode. Die
Figurenplastik der gotischen Kathedralen,
vor der wir mit Bewunderung stehen,
erhält ihre Wirkung aus dem Linien-
fluß. — Liniensymbolik. Bemerkenswert
ist dabei, daß selbst der Kopf dem durch

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